Familien im Bürgerkrieg zurücklassen, bis der Ehepartner genügend verdient?

21. September 2023

Die Schweiz ist bei der Familienzusammenführung von Bürgerkriegsflüchtlingen zu streng. Wer nicht genügend verdient, kann seine Familie nicht in die Schweiz in Sicherheit bringen. Die Familie muss im Kriegsgebiet ausharren. Die Trennung und die stete Sorge um das Schicksal der im Krieg zurückgelassenen Ehepartner und Kinder sind für die Betroffenen kaum zu ertragen. Aus Sicht der Schweizerischen Flüchtlingshilfe (SFH) ist es höchste Zeit für die Gleichbehandlung aller Schutzberechtigten. Auch Bürgerkriegsflüchtlinge brauchen ein Recht auf Familiennachzug.

Christina von Gunten, Rechtsanwältin bei der SFH

Bürgerkriegsflüchtlinge, die alles verloren haben, die den Tod und die Vertreibung von Verwandten und Bekannten gesehen und überlebt haben, erhalten nach schweizerischem Recht einen negativen Asylentscheid und eine vorläufige Aufnahme als Ausländerin oder Ausländer (F-Ausweis). Die zu hohen Anforderungen an den Nachweis einer individuellen Verfolgung führt dazu, dass Personen aus Bürgerkriegsländern wie beispielsweise aus Afghanistan oder Syrien nicht als Flüchtlinge anerkannt werden. Ist die Bevölkerung «nur zufällig» Opfer von Kriegshandlungen wie Tötung von Angehörigen, Zerstörung von Behausungen und Beschiessungen, wird dies gemäss der Schweizer Praxis zwar als «leidvolle Auswirkungen des Krieges» beurteilt. Diese vom Bundesverwaltungsgericht bezeichneten «ungezielten Nebenfolgen» im Krieg oder Bürgerkrieg führen jedoch zu einem negativen Asylentscheid und nur zu einer vorläufigen Aufnahme als Ausländer*in. Sind demnach Bürgerkriegsflüchtlinge keine Flüchtlinge, wenn die Bomben nicht zielgerichtet gefallen sind? Weshalb darf nur ein individuell verfolgter und deshalb anerkannter Flüchtling aus Afghanistan seine Familie sofort nachziehen lassen und ein Bürgerkriegsflüchtling aus demselben Land muss seine Frau und Kinder zurücklassen?

Gleiche Rechte für alle Schutzberechtigten

Anerkannte Flüchtlinge mit Asyl (B-Ausweis) haben ein Recht auf Familiennachzug ohne weitere Bedingungen, ebenso Menschen mit Schutzstatus S aus der Ukraine. Anders ist es jedoch für Bürgerkriegsflüchtlinge: Die Familie verbleibt in der Kriegsregion, bis der Ehepartner in der Schweiz eine Sprache gelernt, eine Stelle gefunden hat und genügend verdient, um auch nach dem Familiennachzug keine Sozialhilfe zu beziehen. Zudem muss vorgängig eine genügend grosse Wohnung gemietet, der nachziehende Ehepartner für eine Sprachschule angemeldet und die gesetzliche dreijährige Wartefrist abgelaufen sein.

Die Folgen dieser Praxis tragen die Ehepartner und die minderjährigen Kinder, welche in den Bürgerkriegsländern zurückbleiben, weil die Flucht aus diesen Ländern legal nicht möglich, zu gefährlich und zu teuer ist. Den täglich ersehnten und erhofften Familiennachzug von Bürgerkriegsflüchtlingen an Voraussetzungen zu binden, welche erst nach Jahren und häufig kaum oder gar nicht erreichbar sind, ist unmenschlich. In der Schweiz beschränkt sich der Familiennachzug auf die Kernfamilie, d.h. minderjährige Kinder und Ehepartner. Die Eltern, Grosseltern oder andere Verwandte dürfen nicht nachgezogen werden.

Die aktuell geltenden unterschiedlichen Regeln für den Familiennachzug für anerkannte Flüchtlinge, für vorläufig aufgenommene Flüchtlinge, für vorläufig aufgenommene Ausländer*innen und für Personen mit Schutzstatus S machen keinen Sinn. Wer in der Schweiz ist und nicht in sein Land zurückkehren kann, braucht grundlegende Rechte und eine Perspektive. Familien müssen geschützt werden, unabhängig vom Grund ihres Schutzbedarfs.

Die Familie in Sicherheit wissen

Begründete Sorgen um die Sicherheit der Familie verhindern eine Integration. Wer kann sich schon auf das Erlernen einer neuen Sprache konzentrieren oder auf eine neue Arbeit fokussieren und dabei seine Familie im Bürgerkrieg wissen?

Jeder Mensch kann wohl nachfühlen, wie wichtig die eigene Familie ist und dass es diese unbedingt zu schützen gilt. Weshalb behandeln wir Bürgerkriegsflüchtlinge nicht so, wie wir selbst gerne behandelt würden? Der Grundsatz der Einheit der Familie und das Recht auf Achtung des Familienlebens sind auch in der Schweizer Bundesverfassung in Artikel 13 und in verschiedenen Menschenrechtskonventionen verankert. Die Familienvereinigung wird jedoch durch die bestehenden gesetzlichen Grundlagen und die restriktive Behördenpraxis massiv erschwert.

Auch Strassburg fordert tiefere Hürden

Die Schweiz ist bei Familienzusammenführungen für vorläufig Aufgenommene zu streng. Das bestätigen zwei kürzlich erfolgte Urteile; jenes zum Fall M.A. gegen Dänemark, Nr. 6697/18 vom 9. Juli 2021 des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Strassburg (EGMR) und das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts F-2739/2022 vom 24. November 2022. Wenn alle anderen Voraussetzungen erfüllt sind, soll die Wartefrist neu von drei Jahren auf die Hälfte verkürzt werden. Aber eben, die Wartefrist ist nur eine der vielen Bedingungen.

Auch bei unverschuldeter Sozialhilfeabhängigkeit dürfen gemäss einem Urteil des EGMR (B.F. und drei andere gegen die Schweiz ; Nr. 13258/18 vom 4. Juli 2023) vorläufig aufgenommene Flüchtlinge unter Umständen die Familie nachkommen lassen. «Man darf von den Betroffenen nicht das Unmögliche verlangen», sagt der Gerichtshof. Der EGMR kam zum Schluss, dass die Schweiz das Recht auf Familienleben gemäss Artikel 8 der Menschenrechtskonvention (EMRK) bei drei Familien verletzt hat, da die vorläufig aufgenommenen Flüchtlinge alles in ihrer Macht stehende unternommen haben, um finanziell unabhängig zu werden. Diese Ausnahme, dass bei unverschuldeter Sozialhilfeabhängigkeit dennoch unter Umständen die Familie nachkommen darf, gilt nicht für Bürgerkriegsflüchtlinge. Sie können sich gemäss Schweizer Praxis nicht auf das Grundrecht der Familieneinheit gemäss Art. 8 EMRK berufen. Angesichts des vergleichbaren Schutzbedarfs und der langen Aufenthaltsdauer ist diese Unterscheidung nicht gerechtfertigt. Aus Sicht der SFH müssen die Überlegungen des EGMR auch für Bürgerkriegsflüchtlinge gelten. Fakt ist ansonsten, dass Bürgerkriegsfamilien für immer getrennt bleiben, falls der Ehepartner nicht genügend verdienen kann und auch die weiteren Voraussetzungen für den Familiennachzug nicht erfüllt sind.

Was bleibt zu tun?

Es sind bisher zu kleine Schritte in die richtige Richtung erfolgt. Die SFH fordert ein gleiches Recht auf Familienzusammenführung für alle Schutzberechtigten. Der Bezug von Sozialhilfe und die Dauer der Anwesenheit dürfen bei Personen mit Schutzstatus keine Kriterien mehr sein. Gleichzeitig sollte die Schweiz Schutzberechtigte auf ihrem Weg, von der Sozialhilfeabhängigkeit loszukommen, vermehrt unterstützen: in dem sie die Hürden zum Arbeitsmarkt abbaut, zukünftige Arbeitgeber*innen unterstützt und in die Information und den Spracherwerb für Geflüchtete investiert.

Bürgerkriegsflüchtlinge sind wie Flüchtlinge zu behandeln. Bürgerkriege dauern Jahrzehnte und nicht vorläufig, wie die Praxis zeigt. Der Begriff der «vorläufig aufgenommenen Ausländer*innen» ist kaum verständlich und irreführend, insbesondere für potenzielle Arbeitgebende. Es ist eine Gesetzesanpassung notwendig und ein humanitärer Schutzstatus zu schaffen, wie dies die SFH schon lange fordert.

Der Familiennachzug ist ohne weitere Voraussetzungen allen Schutzberechtigten zu gewähren. Denn Familien gehören zusammen. Auch geflüchtete.

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