Familiennachzug: EGMR bestätigt zu hohe Anforderung an Sozialhilfeunabhängigkeit

05. Juli 2023

Die Kriterien für die Familienzusammenführung für vorläufig aufgenommene Flüchtlinge sind in der Schweiz zu streng. Zu diesem Schluss kommt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg. In einem am Dienstag veröffentlichten Urteil befand das Gericht, die Schweiz habe in drei Fällen die Achtung des Rechts auf Familienleben verletzt. Die Schweizer Behörden hatten die Gesuche um Familiennachzug abgelehnt, weil die Geflüchteten auf Sozialhilfe angewiesen waren. Die Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH) begrüsst dieses Urteil.

Das EGMR-Urteil (B.F. und andere gegen die Schweiz) bestätigt die langjährige Einschätzung der SFH, dass die Hürden für den Familiennachzug von vorläufig aufgenommenen Flüchtlingen zu hoch sind. Die nun vom Gericht kritisierte Voraussetzung, dass die Geflüchteten nicht von der Sozialhilfe abhängig sein dürfen, wenn sie ihre Familie in die Schweiz holen möchten, ist eine dieser Hürden.

Die SFH setzt sich dafür ein, dass alle Schutzberechtigten ihr Recht auf Familienzusammenführung wahrnehmen können. Dieses Recht ist sowohl in internationalen Menschenrechtsverträgen als auch in der Bundesverfassung garantiert. Besonders kritisch ist die Situation jedoch bei vorläufig aufgenommenen Personen. Für diese Geflüchteten sind die Bedingungen für einen Familiennachzug besonders hoch: Sie müssen eineinhalb Jahre warten und darüber hinaus ökonomische Bedingungen erfüllen. Neben der finanziellen Unabhängigkeit müssen sie etwa auch über eine für die Familie genügend grosse Wohnung verfügen.

Der EGMR hat nun festgehalten, dass die individuellen Umstände der Geflüchteten stärker berücksichtigt werden müssen. So dürfen die Schweizer Behörden nicht absolut am Kriterium der Sozialhilfeunabhängigkeit festhalten, wenn die betroffene Person sich etwa nachweislich darum bemüht hat, finanziell unabhängig zu werden. Laut EGMR-Urteil muss auch berücksichtigt werden, ob eine Person zu krank ist, um arbeiten zu können. Würden diese individuellen Umstände beim Entscheid zu wenig berücksichtigt, könne dies zu einer dauerhaften Trennung von Familien führen. Dies verletzte die Achtung des Rechts auf Familienleben.

Aus Sicht der SFH sollte diese Kritik des Gerichts auch beim Familiennachzug für vorläufig aufgenommene Ausländerinnen und Ausländer zu einer Praxisänderung führen. Die SFH fordert von den Schweizer Behörden, dass nun bei sämtlichen Gesuchen um Familiennachzug von vorläufig Aufgenommenen die Sozialhilfeunabhängigkeit differenzierter geprüft wird.

Darüber hinaus sieht die SFH bei der vorläufigen Aufnahme generell Handlungsbedarf. So soll die vorläufige Aufnahme durch einen humanitären Schutzstatus (Positionspapier) ersetzt und rechtlich den anerkannten Flüchtlingen mit Asyl gleichgestellt werden. Alle Menschen, die in der Schweiz Schutz erhalten, brauchen dieselben grundlegenden Rechte, um in der Schweiz Fuss zu fassen.

Newsletter

Bleiben Sie über asylpolitische Fragen, die Situation in den Herkunftsländern von Asylsuchenden und unsere Aktivitäten auf dem Laufenden.

Jetzt abonnieren