Besonderer Schutzbedarf
Von Menschenhandel wird gesprochen, wenn eine Person durch Gewalt, Täuschung, Drohung oder Nötigung angeworben, vermittelt und ausgebeutet wird. Die Ausbeutung ist dabei das zentrale Motiv und umfasst verschiedene Formen: sexueller Art, Zwangsarbeit, Bettelei, Leibeigenschaft, Organentnahme oder -handel. Die Täterinnen und Täter ziehen einen finanziellen Nutzen aus der Ausbeutung. Betroffene haben psychische und physische Gewalt erfahren und benötigen deshalb besonderen Schutz.
Die Expertengruppe des Europarates gegen Menschenhandel GRETA stattet der Schweiz regelmässig Besuch ab, um die Umsetzung der Konvention gegen Menschenhandel kritisch zu beleuchten. Im aktuellsten Bericht werden Verbesserungen festgestellt, jedoch wird auch darauf hingewiesen, dass weiterer Verbesserungsbedarf besteht. UNHCR hat Richtlinien für die Rechtsauslegung von Asylgesuchen von Personen, die Opfer von Menschenhandel wurden, erstellt, diese werden jedoch in der Schweizer Asylpraxis nicht immer befolgt.
Unterbringung und Betreuung
In der Schweiz werden Asylsuchende während des Asylverfahrens in Kollektivunterkünften untergebracht. In diesen leben Frauen, Männer und Familien auf engstem Raum zusammen. Kollektivunterkünfte bieten den Opfern von Menschenhandel nicht genügend Sicherheit und Rückzugsmöglichkeiten. Neben den Rückzugsmöglichkeiten ist auch das Verständnis des Betreuungspersonals für die Auswirkungen von Traumatisierungen wichtig, damit sich Opfer von Menschenhandel von ihren negativen Erfahrungen erholen können. Dank des Opferhilfegesetzes können Betroffene von Menschenhandel im Normalfall in speziellen Unterkünften untergebracht werden und erhalten medizinische und psychologische Betreuung. Das Opferhilfegesetz gilt jedoch nur für Personen, die in der Schweiz Opfer von Menschenhandel wurden. Wurden Betroffene im Ausland ausgebeutet, was gerade bei Asylsuchenden oftmals der Fall ist, haben sie keinen oder nur einen eingeschränkten Zugang zu den Leistungen der Opferhilfe.
Medizinische Versorgung und Gesundheit
Bei der Ankunft in Kollektivunterkünften wird eine medizinische Erstkonsultation durchgeführt. Dabei haben auch Asylsuchende, die Opfer von Menschenhandel wurden, grundsätzlich jederzeit Zugang zur Krankenstation der Unterkunft. Hierbei wirken die Gesundheitsfachpersonen in den Zentren als Filter für den Zugang zu psychiatrischer und physischer Versorgung. Gerade um angemessene Unterstützung für Personen mit besonderem Schutzbedarf gewährleisten zu können, benötigen Fachpersonen genügend zeitliche, personelle und fachliche Ressourcen.
Asylverfahren
Opfer von Menschenhandel sind häufig stark traumatisiert, sehen sich selbst oft nicht als Opfer oder haben Angst vor Repressalien ihrer Peinigerinnen oder Peiniger. Es fällt ihnen daher schwer, offen über ihre Situation zu reden und diese während des Asylverfahrens glaubhaft darzulegen. Auch kommt es vor, dass sie erfundene und stereotype Geschichten der Kriminellen, die sie ausbeuten, weitergeben, damit sie im Land bleiben können. Oft werden Opfer von Menschenhandel deshalb nicht als solche identifiziert. Können Opfer von Menschenhandel zudem die Gründe, die sie zur Flucht bewegt haben, nicht glaubwürdig vorbringen, wird ihr Asylgesuch abgelehnt. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, dass die im Asylverfahren tätigen Mitarbeitenden des SEM und dessen Leistungserbringende zum Thema sensibilisiert und geschult sind.
Aber selbst in Fällen, in denen Personen glaubhaft darlegen können, Opfer von Menschenhandel geworden zu sein, erhalten sie oftmals kein Asyl. Sie werden von den Schweizer Behörden nicht als «Soziale Gruppe» eingeschätzt, die aufgrund ihrer gemeinsamen Merkmale wie Alter, Geschlecht, ihrem sozialen oder wirtschaftlichen Hintergrund verfolgt ist. Deshalb fallen sie nicht unter die Kriterien der Genfer Flüchtlingskonvention. Diese Praxis widerspricht den oben erwähnten UNHCR-Richtlinien zur Beurteilung von Asylgesuchen von Opfern von Menschenhandel.
Die Schweiz ist verpflichtet, Opfer von Menschenhandel, die sich als Asylsuchende im Dublin-Verfahren befinden, zu identifizieren und geeignete Massnahmen für den Schutz dieser Personen einzuleiten. Dies senkt beispielsweise das Risiko eines wiederholten Menschenhandels und möglicher Vergeltungsmassnahmen. Bei Dublin-Überstellungen ist die Schweiz verpflichtet vor einer Überstellung im Einzelfall prüfen, ob die betroffene Person im Dublin-Staat Zugang zu ausreichenden Massnahmen zum Schutz und zur Betreuung von Opfern von Menschenhandel hat (Art. 16 ÜBM). Die Schweiz prüft vielfach ungenügend, ob Opfer von Menschenhandel im zuständigen Dublin-Staat Zugang zu ausreichenden Schutz- und Betreuungsmassnahmen haben.
Dafür setzen wir uns ein
- Opfer von Menschenhandel benötigen Sicherheit und Rückzugsorte, die Kollektivunterkünfte nicht bieten können. Es muss sichergestellt sein, dass Opfer von Menschenhandel eine Unterbringung erhalten, in der ihre besonderen Bedürfnisse sichergestellt sind. Konkret bedeutet dies Zimmer für ein bis zwei Personen, ausgebildetes Personal und einen 24-Stunden -Zugang zu medizinischer und psychologischer Behandlung.
- Opfer von Menschenhandel fällt es oft schwer, über ihre Situation zu berichten. Die Identifizierung potenzieller Opfer muss deshalb weiter verbessert werden. Die Sensibilisierung und Weiterbildung aller im Asylverfahren tätigen Mitarbeitenden des SEM und dessen Leistungserbringenden, die Kontakt zu potenziellen Opfern haben, ist von enormer Wichtigkeit, um auf mögliche Indikatoren besser reagieren zu können. Diese Kenntnisse und Fertigkeiten müssen regelmässig auf den neusten Stand gebracht werden.
- Die Schweiz prüft vielfach ungenügend, ob Opfer von Menschenhandel im zuständigen Dublin-Staat Zugang zu ausreichenden Schutz- und Betreuungsmassnahmen haben. Die Schweiz sollte die Prüfung gemäss ihren Pflichten durchführen. Sind Schutz- und Betreuungsmassnahmen nicht gewährleistet, sollte die Schweiz selbst auf das Asylgesuch eintreten, um einer weiteren potenziellen Gefährdung und Ausbeutung der Opfer vorzubeugen.
- Bei der Beurteilung von Asylgesuchen wird in der Schweizer Asylpraxis Menschenhandel oftmals nicht als relevant für das Asylgesuch eingeschätzt, da dessen Opfer nicht als soziale Gruppe angesehen werden. Die Schweiz sollte sich dabei jedoch an den entsprechenden UNHCR-Richtlinien orientieren, die klar definieren, dass Opfer von Menschenhandel als eine soziale Gruppe anzusehen sind und damit unter den Flüchtlingsbegriff der Genfer Flüchtlingskonvention fallen.