Vulnerabilität
Vergewaltigung und sexuelle Belästigung, Zwangsverheiratung oder Zwangsprostitution, Genitalverstümmelungen oder für Frauen diskriminierende Rechtsvorschriften – dies alles sind geschlechtsspezifische Fluchtgründe.
In zahlreichen Ländern vertritt der Staat die Auffassung, dass er für diese Gewalt gegenüber Frauen nicht verantwortlich ist: Die Opfer geniessen somit keinerlei gesetzlich verankerten Schutz; die Taten ihrer Gewalttäter sind im Strafgesetzbuch nicht anerkannt und können daher nicht verfolgt werden. Die Frauen sehen nur eine Lösung, nämlich in einem anderen Land Schutz zu suchen. Gemäss UNHCR handelt es sich bei der Hälfte der 79 Millionen Menschen, die weltweit Schutz suchen, um Frauen und Kinder. In der Schweiz stellen weibliche Schutzsuchende rund ein Viertel der Asylgesuche (Zahlen für 2020, Tabelle 7-20).
Rechtlicher Rahmen
Der besonderen Situation der Frauen im Asylverfahren wird mit einigen Rechtsinstrumenten Rechnung getragen:
International
- Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge
- Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form der Diskriminierung der Frau (Vereinte Nationen)
Europa
- Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (Istanbul-Konvention)
- Übereinkommen zur Bekämpfung des Menschenhandels
National
- Asylgesetz. Das Asylgesetz sieht seit 1998 vor, dass «den frauenspezifischen Fluchtgründen Rechnung zu tragen ist» (Art. 3, Abs.2).
Praxis der Schweizer Behörden
Um festzustellen, ob einer Frau Asyl oder vorläufiger Schutz aus frauenspezifischen Gründen gewährt werden kann, stützen sich die Schweizer Migrationsbehörden auf das Handbuch Asyl und Rückführung, was jedoch in mehrfacher Hinsicht nicht immer unproblematisch ist:
Unzulänglichkeiten bei der Auswahl der während der Befragung anwesenden Personen
Bei Vorliegen konkreter Hinweise auf geschlechtsspezifische Verfolgung muss von Amtes wegen die Möglichkeit gegeben sein, die Befragung von einer Frau durchführen zu lassen. Die Behörden halten sich jedoch nicht immer an diese Vorgabe.
Fallstrick Glaubhaftigkeit
Im Allgemeinen ist es für eine Gesuchstellerin bei ihrer Befragung zu den Fluchtgründen schwierig, hinreichende Beweise für die Verfolgung sowie für den fehlenden Schutz in ihrem Herkunftsland beizubringen. Die Verfolgung findet in der Regel im Privaten statt. Entscheidet eine Frau sich an die Polizei zu wenden, kann es sein, dass diese ablehnen sich in «Familienangelegenheiten» einzumischen.
Verspätetes Vorbringen
Es kommt häufig vor, dass das verspätete Vorbringen erlittener geschlechtsspezifischer Gewalt, wie eine Vergewaltigung, von den Behörden als nicht glaubwürdig angesehen. Es ist jedoch wissenschaftlich erwiesen, dass traumatisierte Personen nicht sofort umfassend und ohne Widersprüche über ihre Erlebnisse sprechen können und sogar versuchen, alle Gedanken, Gefühle oder Gespräche über die Ereignisse, die zu ihrer Traumatisierung führten, zu vermeiden.
Frauenspezifische Gewalt
Weitaus problematischer ist, dass die Schweizer Behörden die Art und Weise frauenspezifischer Gewalt nicht immer als relevante Verfolgung für das Asylverfahren einschätzen – ob es sich dabei um Vergewaltigung, genitale Verstümmelung, häusliche Gewalt oder auch Zwangsverheiratung handelt – und damit jegliche Relevanz für die Gewährung von Asyl verneinen.
Häufig berücksichtigen die Behörden gegenüber Gesuchstellerinnen die UNHCR-Richtlinien nicht, für die alle Formen geschlechtsspezifischer Gewalt aufgrund von Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischer Überzeugung als Verfolgung im Sinne der Festlegung des Flüchtlingsbegriffs betrachtet werden können (Abs. 1.3). Mit anderen Worten: Die Behörden unterschätzen zuweilen, dass bestimmte Formen der Verfolgung aus politischen oder religiösen Gründen explizit gegen Frauen gerichtet sind und keine Formen der Gewalt darstellen, die überall und jederzeit auftreten können.
So ist die Vergewaltigung einer kurdischen Frau für türkische Behörden nicht zwangsläufig ein sexueller Übergriff, der sich auch in der Schweiz ereignen könnte. Es handelt sich vielmehr um eine Form der Gewalt gegen eine Frau, die einer bestimmten ethnischen oder religiösen Gruppe angehört. Wird dieser politische oder religiöse Hintergrund von den Schweizer Behörden jedoch nicht anerkannt, wird auch die erfahrene Gewalt nicht als für die Asylgewährung relevant anerkannt.
Unterbringung
Aktuell sind die Bundesasylzentren (BAZ) noch nicht vollständig mit abschliessbaren Schlafsälen für Frauen ausgestattet. Zudem sind nicht alle Vorschriften über geeignete Sichtschutzmassnahmen in den Duschen und über den ungehinderten Zugang zu abgetrennten Toiletten für beide Geschlechter umgesetzt. Zum Schutz der Frauen vor sexueller Gewalt in den BAZ und zur entsprechenden Prävention müssen diese Punkte beachtet werden.
Was wir fordern
- Zwingende Beachtung der Vorschriften über die unter Genderaspekten heikle Unterbringung. In unseren Mindeststandards für die Unterbringung von Asylsuchenden empfehlen wir besondere Massnahmen zum Schutz der Frauen. Diese Massnahmen müssen in den Bundesasylzentren sowie in den kantonalen Unterbringungsstrukturen Anwendung finden.
- Die Koordinierung aller Akteure in den Bundesasylzentren hinsichtlich Prävention von Gewalt gegen Frauen und Mädchen und Schutz möglicher Opfer. Dies erfordert auch eine stärkere Beteiligung des Rechtsschutzes und eine ständige Präsenz weiblichen Sicherheitspersonals.
- Die Anerkennung der politischen und sozialen Rolle der Frauen in ihrer Heimatgesellschaft, um dem häufig politisch-religiösen oder diskriminierenden Wert der ihnen widerfahrenen Gewalt Rechnung zu tragen.
- Eine flexiblere und breitere Anwendung des Begriffs «Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe» als Asylgrund für Frauen.
- Die Anwendung einer Praxis entsprechend den UNHCR-Richtlinien.