«Wir möchten alle sofort arbeiten»

19. April 2022

Viele Afghaninnen und Afghanen leben seit Jahren in der Schweiz mit einer vorläufigen Aufnahme, dem sogenannten F-Ausweis. Damit können sie sich beruflich kaum auf dem Schweizer Arbeitsmarkt etablieren und bleiben am Rand der Gesellschaft. Darunter leidet auch der ehemalige Übersetzer und kulturelle Mediator Muhammad Yaqoob Attal.

Von Barbara Graf Mousa, Redaktorin Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH)

Oberengstringen – eine Vorortsgemeinde im Grossraum Zürich, mit dem Bus vom Bahnhof Altstetten in einer knappen Viertelstunde erreichbar. Am Lanzrain stehen unterhalb der stark befahrenen Schnellstrasse ein paar Container-Baracken. Es sind die Unterkünfte für jene Geflüchteten, welche dieser Gemeinde zugeteilt worden sind: 24 Menschen, die meisten mit F-Ausweis, einer vorläufigen Aufnahme, die jederzeit mit einer Wegweisung zu Ende gehen kann. Dann nämlich, wenn die Schweiz die Situation in ihren Herkunftsländern als ausreichend sicher erachten sollte. So zum Beispiel im Fall von Afghanistan, Eritrea, Syrien, Irak oder Sri Lanka, wo zum Teil seit Jahrzehnten gewaltsame Konflikte herrschen und sich die Schweizer Asylpraxis in der Vergangenheit immer wieder geändert.

Fluchtgründe beeinflussen Status

Muhammad Yaqoob Attal lebt seit über zwei Jahren in einem dieser Container. Er ist aus seinem Herkunftsland Afghanistan geflüchtet und hat in der Schweiz im September 2019 eine vorläufige Aufnahme ohne Flüchtlingsanerkennung erhalten, den F-Ausweis/Ausländer. «Ich habe in Afghanistan für die US-Armee und für die Nato-Streitkräfte als Übersetzer gearbeitet», erzählt der 32-Jährige in gepflegtem Englisch. «Aber ich gelte nicht als persönlich verfolgt und habe deshalb den Flüchtlingsstatus nicht erhalten.» Es klingt sehr enttäuscht, auch wenn er es mit einem höflichen Lächeln sagt. Vorsichtig erklärt er dazu: «Ich kann es nicht nachvollziehen, ehrlich gesagt. Denn ich habe Beweismaterial über meine Gefährdung abgeben können; ich habe in den Armeecamps der ausländischen Streitkräfte übersetzt und als kultureller Mediator für sie gearbeitet. Sowohl ich persönlich wie meine Angehörigen werden vom Taliban-Regime verfolgt, in ihren Augen haben wir das militärische Besatzungsregime unterstützt.» Im jüngsten Bericht der SFH-Länderanalyse über die Gefährdungsprofile nach der erneuten Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 werden auch Dolmetscher*innen aufgeführt. Doch eine persönliche Verfolgung glaubhaft zu dokumentieren, ist nach einer Flucht oft sehr schwierig. Viele Dokumente und Ausweispapiere gehen verloren und sind in Kriegsländern ohne stabile staatliche Strukturen kaum mehr zu beschaffen. Geflüchtete mit Schutzstatus S hingegen müssen ihre Gefährdung «wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe» nicht beweisen und kein Asylverfahren durchlaufen. Aktuell erhalten ukrainische Staatsbürger*innen und ihre Familienangehörige sofort für mindestens ein Jahr Schutz; sie müssen sich einzig beim Staatssekretariat für Migration (SEM) registrieren. Danach können sie wählen zwischen einer privaten oder einer kollektiven Unterkunft in einer Schweizer Gemeinde.

Positive Diskriminierung

Muhammad Yaqoob Attal wurde 2019 nach seinem Asylentscheid dem Kanton Zürich zugewiesen; das geht auf die Regelung des bevölkerungsprozentualen Verteilschlüssels zwischen Bund und Kantonen zurück. Nun muss der 32-Jährige mit monatlich 600 Franken Asylsozialhilfe auskommen, davon ausgenommen sind die Kosten für Miete und Krankenversicherung. Für Kleider, Hygiene, Essen und Transport mit den Öffentlichen Verkehrsmitteln muss es allerdings reichen. Bei der Asylsozialhilfe ist Muhammad Yaqoob Attal (oder «die vorläufig Aufgenommenen») den ukrainischen Geflüchteten gleichgestellt: Auch für sie ist derzeit ein Sozialhilfebeitrag vorgesehen, der wie bei vorläufig aufgenommenen Ausländer*innen um rund 40 Prozent niedriger ist als bei Schweizer Staatsbürger*innen und anerkannten Flüchtlingen; die kantonal sehr unterschiedlichen Ansätze für die Asylsozialhilfe bewegten sich 2021 zwischen 800 und 300 Franken monatlich. «Als Hauswart und mit dem Putzen der Sanitär- und Kochinfrastruktur verdiene ich im Monat noch 100 Franken dazu», erzählt Attal. «Manchmal kann ich auch für Organisationen im Asylbereich übersetzen, dann kommt noch etwas dazu, aber die Einsätze sind unregelmässig.» Doch damit kommt er seinem Ziel, möglichst rasch von der Sozialhilfe wegzukommen und auf eigenen finanziellen Füssen stehen können, nur in kleinen Schritten näher. «Alle mit F-Ausweis, die ich kenne, haben das gleiche Ziel: möglichst schnell aus der Sozialhilfe raus, und warum? Weil man nur so eine Chance hat, seinen Ehepartner und seine Kinder zu sich zu holen und später eine B-Bewilligung mit mehr Rechten zu bekommen», erklärt Muhammad Yaqoob Attal. Denn im Gegensatz zum Schutzstatus S kann man mit einem F-Aufenthaltsstatus erst nach drei Jahren ein Gesuch auf Familiennachzug und erst nach fünf Jahren ein sogenanntes Härtefallgesuch für eine B-Bewilligung stellen, wenn man denn die Kriterien dazu erfüllt: keinen Sozialhilfebezug, ausreichend grosse Wohnverhältnisse, genügend Kompetenz in der Sprache des Wohnsitzkantons und eine gesicherte Arbeitsstelle, so dass die Behörden davon ausgehen können, dass keine erneute Sozialhilfeabhängigkeit entsteht. Das schafft man meist nur mit einer permanenten Arbeit, doch viele Arbeitgebende scheuen sich, eine Person mit einer vorläufigen Aufnahme anzustellen; zu viele Unsicherheiten, zu viel Administration und Bürokratie. Attal hätte dazu einen Vorschlag. «Wie wäre es mit einer positiven Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt? Wonach Geflüchtete mit F-Status Vorrang hätten gegenüber Menschen, die nicht mit den Nachteilen der vorläufigen Aufnahme bei der Stellensuche zu kämpfen haben.»

Das Leben am Rand der Gesellschaft mache auf die Dauer krank, berichtet er. «Viele Geflüchtete leiden psychisch stark unter diesem Provisorium; es drückt auf ihr Selbstwertgefühl. Mit der Zeit werden sie passiv und verlieren Kraft und Energie, weil sie keine Perspektive mehr sehen.»