Sudan – wie weiter?

27. Mai 2025

Taha Yahyas Heimat liegt im Westen Sudans. 2003 musste der damals 6-jährige Masalit aus Norddarfur mit den Überlebenden seiner Familie in eines der grossen Flüchtlingslager im Tschad flüchten. 2015 verliess er das überfüllte Camp auf der Suche nach einer Lebensperspektive. Seine zweite Flucht brachte ihn in die Schweiz. 2018 berichtete er in einem ausführlichen Interview über die Situation im Westsudan. Inzwischen konnte Taha Yahya dank seiner sudanesischen Staatsbürgerschaft in den Jahren 2023 und 2024 in den Tschad reisen und seine Familie besuchen. Was hat sich in diesen sieben Jahren verändert? Wie geht es den sudanesischen Vertriebenen in den Lagern?

Interview: Barbara Graf Mousa, Redaktorin SFH 

2003 eskalierte der schon lange schwelende Konflikt in Darfur erstmals richtig in der Wahrnehmung im Westen. Damals geriet die Zivilbevölkerung zwischen die Fronten der islamistisch-fundamentalistisch orientierten sudanesischen Regierung: Diese bekämpfte mit Hilfe der gefürchteten arabischen Milizen, den Dschandschawid, die nicht-arabisch-stämmigen Rebellengruppen aus dem Zentral- und Südsudan, die sich damals aus der Sudan Liberation Army (SLA) und dem Justice and Equality Movement (JEM) zusammensetzten. 

Barbara Graf Mousa: Hat sich seit der erneuten Eskalation 2023 etwas an diesem Konflikt geändert?  

Taha Yahya: Geändert hat sich nichts zum Besseren, im Gegenteil die Camps sind noch grösser, die Menschen noch zahlreicher. Leider muss ich sagen, dass, je schlimmer und eskalierter die Situation ist, desto grösser ist die Gefahr, dass immer weniger Organisationen vor Ort sind. Als ich dort war, sah ich die gleichen wie 2003 und 2015: UNHCR, Ärzte ohne Grenzen und IKRK

2018 kostete der erneut aufgeflammte Darfur-Konflikt über 300'000 Menschen das Leben und machte über 2.5 Millionen Menschen aus dem Darfur zu Flüchtlingen. 2018 lebten über 300'000 Vertriebene in etwa 12 Flüchtlingscamps im Osten Tschads nahe der sudanesischen Grenze. In einem davon lebte auch Taha Yahya bis zu seiner Flucht.  

2023 und 2024 konnte Taha Yahya seine Familie dort besucht. Wie ist sein Eindruck?  

Taha Yahya: Es ist sehr schwierig und der Anblick ist sehr schmerzhaft. Die Geflüchteten aus dem Darfur kommen erschöpft, unterernährt, krank und oft mit schweren, entzündeten Verletzungen über die Grenze in den Tschad bei André. Dort liegen sie erstmal schutzlos auf der Strasse herum, ohne Dach über dem Kopf, ohne medizinische Versorgung. Es ist dort sehr heiss und staubig. Wegen der vielen Flüchtlinge dauert es etwa einen Monat, bis die Administration des UNHCR überhaupt die Registrierung abgewickelt hat. Das Wasser wird mit Tanks gebracht, die Nahrung auch. Doch es fehlt an allem, die Not ist riesig, die Menschen sind am Verhungern. Viele haben offene Schusswunden, die nicht behandelt werden können. Die schiere Not und die ständige Zunahme der Schutzbedürftigen überfordern die Hilfsorganisationen. 

Mitte April 2023 brachen im Westen Sudans erneut Kämpfe zwischen den sudanesischen Regierungstruppen, den Sudanese Armed Forces (SAF) und den Rapid Support Forces (RSF) sowie deren verbündeten Milizen aus. UNHCR und weitere Organisationen berichten im Mai 2025, dass nun insgesamt 12,8 Millionen Sudanesinnen und Sudanesen vertrieben sind, davon knapp 9 Millionen innerhalb des Landes. 26 Millionen Sudanesinnen und Sudanesen leiden an Hunger, 30,4 Millionen sind auf humanitäre Hilfe angewiesen. 

Taha Yahya: Ja, die aktuellen Zahlen sind erschreckend und es ist klar, dass die Hilfsorganisationen Prioritäten setzen müssen. Das bedeutet, dass die Neuangekommenen zuerst berücksichtigt werden. Langjährigen Flüchtlinge, die in diesen Camps seit 2003 so leben wie meine Eltern, erhalten dadurch weniger Hilfsgüter. Für die Generationen, die nun schon über 20 Jahre dort leben müssen, verschlimmert sich die Situation also auch.  

Dazu kommen die im Januar 2025 von der Trump-Administration beschlossenen Kürzungen der amerikanischen Entwicklungshilfeausgaben. Diese betreffen unter anderen auch das UNHCR, das Welternährungsprogramm ((WFP) und die Weltgesundheits-Organisation (WHO). Wie wirkt sich das aus?  

Taha Yahya: Eine unmittelbare Auswirkung davon ist beispielsweise, dass das UNHCR nun keine Lehrpersonen mehr finanzieren kann für Schulunterricht und Bildung in den Flüchtlingscamps. Das ist verheerend, denn so sind die Kinder und Jugendlichen nicht nur ohne Schulbildung, sondern auch ohne Tagesstruktur und ohne Erziehungsregeln. Oft sind die Lehrer auch Autoritätspersonen – ohne sie droht vieles zu verrohen. 

Taha Yayha beschreibt 2018, dass die sudanesischen Flüchtlinge in den Camps im Tschad zwar geduldet werden, jedoch ein Leben in Armut und Perspektivenlosigkeit fristen. Vielen steckt noch immer die Angst in den Knochen, entführt zu werden. Dürre, Hitze und Wasserknappheit führen zu Unterernährung und Krankheiten. Die hygienischen Zustände verschlimmern den Lebensalltag.  

Hat sich seither etwas verändert? 

Taha Yahya: Es hat sich seither leider nur zum Schlimmeren verändert. Während die Dschanschawid 2003 noch mit Pferden unterwegs waren, kommen sie heute mit Flugzeugen. Ihre Infrastruktur hat sich offenbar sehr deutlich und spürbar verbessert und etabliert, während jene der angegriffenen Zivilbevölkerung sich noch mehr verschlechtert hat. Jene, die die Paramilitärs gegen die Menschen in Darfur mit Kriegsmaterial versorgen, haben damit Erfolg. Jene, die den Menschen helfen wollen, finden kaum noch Unterstützung.  

Was gibt den Vertriebenen aus dem Sudan noch Hoffnung?  

Taha Yahya: Ganz nüchtern gesagt, auf was willst du noch hoffen, wenn nun schon die dritte Generation in noch schlimmeren Zuständen leben muss? Wenn die sudanesische Regierung deine Feinde heranzüchtet und ausrüstet? Der Sudan hat seit seiner Unabhängigkeit 1956 stets gegen die eigene Bevölkerung Krieg geführt, nie nach aussen.  

Welches Bild haben Menschen in den Flüchtlingslagern im Tschad von Europa? 

Taha Yahya: Europa ist weit weg, der Strom läuft selten und von daher gibt es kaum Fernsehen und nur sporadisch Internet. Doch muss es in Europa einfach besser sein, denken viele, denn dort gibt es eine funktionierende Infrastruktur, Essen und Medizin.  

Was wissen sie über ihre Chancen, dass eine Flucht gelingt und dass sie in Europa bleiben können? 

Taha Yahya: Wenn du so oder so nichts zu verlieren hast, riskierst du viel. Doch niemand flüchtet zum Vergnügen, es ist die schiere Not und vor allem die Perspektivenlosigkeit, die eine Flucht attraktiv macht. 

Warum ist eine zwar sehr gefährliche Flucht doch oft nur noch der einzige Weg zu einem menschenwürdigen Leben? 

Taha Yahya: Solange dieser Krieg von Machinteressen und ausländischen Begehrlichkeiten weiter unterstützt wird, und die Rohstoffgewinnung beispielsweise wichtiger ist, als Menschen zu schützen, werden die Fluchtversuche weiter gehen. 

Warum wagen Menschen lebensgefährliche Fluchtwege nach Europa, das sie nicht willkommen heisst und sich abschottet?  

Taha Yahya: Nun, man ist auch im Flüchtlingslager nicht wirklich willkommen. Als Geflüchteter musst du überall für deine Würde kämpfen, du bist nirgends wirklich willkommen.  

Heute arbeitet Taha Yahya als Fachmann Gesundheit in einem Spital. Seine Lehre hatte er bei der Spitex 2018 noch mit dem F-Ausweis als vorläufig Aufgenommener begonnen. Seit 2020 hat er mit dem B-Ausweis ein Bleiberecht. Einerseits lebt er in Sicherheit mit beruflichen Perspektiven und vergleichsweise hohem Lebensstandard, andererseits pflegt er engen Kontakt mit seiner Familie, die immer noch im Flüchtlingslager bei Adré lebt.  

Wie geht er damit um? 

Taha Yahya: Schauen Sie, von der Flucht aus dem Tschad damals, bis zum Berufsleben in der Schweiz heute – all das gehört zu mir und macht mich als Persönlichkeit aus. Ich kann nicht ändern, dass ich von 2003 bis 2015 in einem Flüchtlingscamp im Tschad gelebt habe, dass ich die Flucht gewagt habe und dass ich heute in einem sicheren Land mit einem guten Beruf leben kann. Ich muss mit diesem Widerspruch zurechtkommen, er ist Teil meines Lebens. 

Wie schätzt er die Entwicklungen im Sudan ein? 

Taha Yahya: Im Moment zeichnet sich eine weitere Spaltung ab; dann gäbe es in Zukunft ir den Sudan, den Südsudan und vielleicht bald Darfur als eigener, abgespaltener Staat. 

Mir wäre ein föderalistisches System lieber: mit Regionalregierungen, aber lose verbunden zu einem Staat. Heute ist alles zu zentralistisch, es gibt keine Hauptstadt Khartum mehr, die ganze Regierung hat sich nach Port Sudan verlegt. Vielleicht ist auch ein guter Diktator oder eine gute Diktatorin eine bessere Lösung als Tribalismus, den wir nun seit Jahren hatten. 

Europa und die Afrikanische Union haben 2014 den sogenannten Khartum-Prozess angestossen. Dabei sollen «Dialog und die Zusammenarbeit im Migrationsbereich zwischen Herkunfts-, Transit- sowie Zielstaaten entlang der Migrationsroute vom Horn von Afrika nach Europa» gefördert werden, ist auf der Website des Staatssekretariats für Migration (SEM) dazu zu lesen. Übrigens hatte die Schweiz dabei zuerst Beobachterstatuts, wurde im Dezember 2016 dann Vollmitglied und finanziert den Prozess über den Nothilfe-Treuhandfonds der EU für Afrika (ETF) mit.  

Könnte Europa also mehr tun für die geflüchteten Menschen aus dem Sudan?  

Taha Yahya: Im Khartum-Prozess wurden unter anderem mit Regimes wie Sudan und Eritrea Vereinbarungen getroffen, damit diese die Fluchtbewegungen aus den Ländern am Horn von Afrika unterdrückten. Wie? Indem unter anderem Sudans Justiz-, Militär- und Grenzschutzbehörden mit diesen Mitteln technisch aufgerüstet und ausgebildet wurden. Damit hat Europa indirekt die Dschandschawid unterstützt, die die Zivilbevölkerung massakriert.

Könnte Europa sich wenigsten jetzt stärker an der humanitären Hilfe beteiligen? 

Taha Yahya engagiert sich in der Schweiz beim Netzwerk Migrant Solidarity Network, das für Solidarität mit geflüchteten Menschen einsteht. Konnte das Netzwerk für die sudanesischen Geflüchteten etwas erreichen? 

Taha Yahya: Wir haben Ende November 2024 in Bern mit einer Kundgebung auf das Asyl-Moratorium für sudanesische Asylsuchende aufmerksam gemacht und dessen Sistierung gefordert. Das hat offenbar Wirkung gezeigt. Denn am 20. Februar 2025 hat das Staatssekretariat für Migration (SEM) das Moratorium aufgehoben. Wichtig ist auch die Vernetzung untereinander, der Informationsaustausch.   

Wie sieht Taha Yahya seine Zukunft?  

Taha Yahya: Ich lebe jetzt mal von Moment zu Moment. Ich würde gerne meinem Land und den Menschen helfen vor Ort, zum Beispiel in einer Organisation mitarbeiten, medizinisch tätig sein. Doch ein Aufbau oder zumindest eine Entwicklung in diese Richtung scheinen in weiter Ferne zu sein. 

Und hier in der Schweiz? 

Taha Yahya: Das wir uns richtig verstehen, ich bin froh und dankbar hier zu sein und schätze die grosse Freiheit und die vielen Bildungsmöglichkeiten, die man hier in der Schweiz hat. Derzeit besuche ich einen Englischkurs, damit ich mich mit meinen afrikanischen Kolleginnen und Kollegen besser unterhalten kann. Ich liebe auch meine Arbeit mit den Patienten sehr und fühle mich im Team wohl.  

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Links zur Vertiefung über die Situation im Sudan (Mai 2025) 

https://www.ecoi.net/en/file/local/2121412/2025_02_EUAA_COI_Report_Sudan_Security_Situation.pdf  

Dokumentarfilme, Videos 

 

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