Archiv für Zeitgeschichte (Foto: Markus Fischer)

Vergangenheitsspeicher mit hoher historischer Authentizität

31. Juli 2025

Vor 30 Jahren begann die Beziehung zwischen der Schweizerischen Flüchtlingshilfe (SFH) und dem Archiv für Zeitgeschichte (AfZ) der ETH Zürich. Anlass dazu gab der Standortwechsel der SFH von Zürich nach Bern, dem Sitz vieler befreundeter Organisationen. Gemeinsam und näher am nationalen Politgeschehen sollte das Einstehen für die Sache der Flüchtlinge mehr Resonanz und Wirkung erzielen. Und so übergab die 1936 gegründete SFH 1995 erstmals Geschäftsakten und Archivalien im Umfang von über 60 Laufmetern dem AfZ. Seither sind die SFH-Bestände öffentlich zugänglich und Grundlage zahlreicher Forschungsarbeiten. Der langjährige Leiter des Archivs Gregor Spuhler und die wissenschaftliche Mitarbeiterin Gaby Pfyffer ordnen im Interview den Stellenwert der SFH-Archivalien ein und erklären unter anderem, warum Archive wie das AfZ in einer Demokratie unverzichtbar sind.

Von Barbara Graf Mousa, Redaktorin SFH

Was finde ich im Archiv für Zeitgeschichte zur Schweizer Flüchtlingsgeschichte? 
Gregor Spuhler: Das Spannende ist die Vielfalt von Dokumenten aus privatem Besitz zur Geschichte der Schweiz im 20. und 21. Jahrhundert. Damit kann in Ergänzung zur staatlichen Überlieferung ein Thema auch aus der Perspektive nicht-staatlicher Akteurinnen und Akteure erforscht werden. 

Gaby Pfyffer: Im AfZ können Sie grosse Bestände von Flüchtlingsorganisationen wie der SFH oder dem Verband Schweizerischer Jüdischer Fürsorgen (VSJF) sichten sowie kleinere, zum Teil fragmentarisch erhaltene Bestände wie zum Beispiel diejenigen der Schweizerischen ökumenischen Flüchtlingshilfe (SOEF) oder der Freiplatzaktion Zürich. Dazu kommen Nachlässe engagierter Persönlichkeiten im Flüchtlingsbereich wie Gertrud Kurz, «Mutter der Flüchtlinge» oder «Flüchtlingspfarrer» Paul Vogt, Sammlungen von Presseausschnitten und weitere gedruckte Unterlagen zu den Themen Asyl und Flucht.

Wie sind diese Bestände im Rahmen der gesamten Forschung zur schweizerischen Asyl- und Flüchtlingsgeschichte einzuordnen? Welche Bedeutung haben sie? 
Gaby Pfyffer: Die Fülle und Verschiedenheit der übergebenen Quellen, die dem AfZ entweder von Einzelpersonen oder von Institutionen und Organisationen anvertraut worden sind, ergeben im Gesamten ein sehr differenziertes, vielfältiges Bild zu diesem Thema. Solche verlässlichen Quellen sind wertvoll und wichtig, weil sie die damalige Denkweise widerspiegeln. Es sind Vergangenheitsspeicher, die uns helfen nachzuvollziehen, weshalb in einem gewissen Zeitraum gewisse Entscheidungen und Handlungen vollzogen wurden. 

Was sind die Besonderheiten der SFH-Archivalien?
Gaby Pfyffer: Die SFH ist als Dachverband der Hilfswerke und Organisationen im Flüchtlingsbereich eine gesamtschweizerisch tätige Organisation. Die Archivalien zeigen ihre politische Arbeit im Diskurs mit dem Bund, den Kantonen und der Gesellschaft, ihre Lobbyarbeit für Flüchtlinge und die Produktion von Wissen, um überhaupt agieren zu können. Die SFH eignete sich selbst unter anderem mittels Themendossiers und Presseausschnittsammlungen Wissen an, beispielsweise zur Unterbringung und zur Arbeitsintegration von Flüchtlingen oder zu politischen Vorstössen wie den Überfremdungsinitiativen. Die Akten sind sehr vollständig und ermöglichen eine durchgehende Forschung über einen längeren Zeitraum hinweg. Zudem ist die Vielfalt der Quellenarten wie Geschäftsakten, diverse Publikationen für die öffentliche Sensibilisierung, Fotografien, Tondokumente und Filme besonders interessant.

Ist es heute noch sinnvoll, Akten von Organisationen wie der SFH so lange aufzubewahren?
Gregor Spuhler: Ohne Archive gäbe es keine seriöse Geschichtswissenschaft, sondern Legenden und Mythen. Archive sind ein fester Bestandteil einer Demokratie, es gibt dazu klare gesetzliche Grundlagen. Sie sind unentbehrlich für die Suche nach Authentizität, also nach Echtheit und Wahrheit. 

Was ist der Mehrwert davon und für wen? 
Gregor Spuhler: Nehmen wir das Beispiel der «Bergier-Kommission», die die Vorwürfe gegen die Schweiz betreffend mögliche, zurückbehaltene Vermögenswerte von Opfern und Tätern des Naziregimes wissenschaftlich abzuklären hatte. Die Schweiz stand 1996 wegen der nachrichtenlosen Vermögen international stark unter Druck. Für diese Aufgabe war die Zugänglichkeit der Akten für eine umfassende Untersuchung der Rolle der Schweiz während des Zweiten Weltkriegs entscheidend. Damals verordnete der Staat die Öffnung und den Zugang der «Unabhängigen Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg» zu allen relevanten Archiven und Akten. Das Ergebnis war eine wissenschaftlich abgestützte Einordnung der schweizerischen staatlichen und privaten Akteure und ihrer Handlungen während des Zweiten Weltkriegs. Dank der vorbehaltlosen Öffnung und Untersuchung der Archive konnte die Schweiz sich auch international wieder rehabilitieren.

Was sind heute die Herausforderungen für Archive wie das AfZ? 
Gregor Spuhler: Eine grosse Herausforderung sind der digitale Wandel und die Qualität solcher Akten aus privatem Besitz, also Festplatten, E-Mails, Datenbanken usw. in Formaten, die sich laufend verändern. Um diese zugänglich zu machen, braucht es neue Software, müssen neue Tools entwickelt wie auch Speicherplätze zugekauft und gesichert werden. Die Klimaerwärmung fördert Kleinorganismen, die die Papierarchivalien gefährden, also braucht deren Konservierung neue Lösungen. Allgemein wächst das Archiv. Organisationen wie economiesuisse produzieren weiterhin archivwürdige Dokumente. Und zu einem Nachlass wie jenem von Carl Lutz, der als Schweizer Diplomat in Budapest tausende Jüdinnen und Juden rettete, können auch Jahre später noch Nachlieferungen kommen. Magazinraum und digitaler Speicher sind also für alle Archive ein Thema.

Wie steht es mit der Finanzierung des Archivs für Zeitgeschichte?
Gregor Spuhler: Als Organisationseinheit der ETH werden wir primär vom Bund finanziert. Diese Mittel sind wiederum von Parlamentsentscheiden abhängig. Allerdings stammen rund 40 Prozent unseres jährlichen Budgets aus Drittmitteln, die wir über Stiftungen, durch Beiträge von Organisationen und Spenden generieren müssen. 

Wenn man unterschiedliche Flüchtlingsgruppen der letzten Jahrzehnte vergleicht, auch im Hinblick auf die jeweilige Stimmung in Politik und Gesellschaft, was sind Gemeinsamkeiten und was sind die Unterschiede?
Gregor Spuhler: Bis Ende der 1960er Jahre definierte der Bund die Flüchtlingsaufnahme über Kontingente, in erster Linie für Menschen aus den Ostblockstaaten. Im Zeichen des Kalten Kriegs stiessen die Geflüchteten aus Ungarn und der damaligen Tschechoslowakei in der schweizerischen Gesellschaft auf hohe Akzeptanz. Das änderte sich ab den 1970er Jahren mit den ersten Flüchtlingsgruppen aus aussereuropäischen Gebieten, was insbesondere 1973 die chilenischen und ab den 1980er Jahren die sri-lankischen Schutzsuchenden zu spüren bekamen. 

In den 1970er Jahren schürten rechtsnationale und politische Gruppierungen, Einzelpersonen wie James Schwarzenbach, aber auch Medienkampagnen gezielt die Ängste vor «Überfremdung». 
Gregor Spuhler: Die Abwehrreflexe, die zu Ängsten und ab den 1970er Jahren zur Ablehnung von schutzsuchenden Menschen aus aussereuropäischen Gebieten führten, haben meiner Ansicht nach auch viel mit der geografischen Ferne und dem gesellschaftlichen Wissensstand über diese Konfliktgebiete zu tun. So stiessen Flüchtlinge aus Ex-Jugoslawien in den 1990er Jahren oder aktuell aus der Ukraine auf eine hohe Akzeptanz, waren und sind doch die entsprechenden Kriege bei uns direkt wahrnehmbar. Aussereuropäische Kriege einordnen zu können, dazu die oft sehr komplexen Fluchtgeschichten betroffener Schutzsuchender zu verstehen, das scheint viele Menschen zu überfordern. 

Was leisten Archive für die aktuelle Asylpolitik, für die Debatten um Flucht und Asyl?
Gaby Pfyffer: Historische Dokumente können zur Versachlichung eines Themas beitragen. Sie schaffen faktengestützte Grundlagen für die Debatten. Zum Beispiel hat die Historikerin Tiphaine Robert in ihrer Dissertation über die ungarischen Geflüchteten in der Schweiz herausgefunden, dass ca.10 Prozent nach kürzerer oder längerer Zeit in der Schweiz wieder ins kommunistische Ungarn zurückgekehrt sind – eine erstaunliche Erkenntnis, die nur möglich war, weil sich die Forscherin mit den Grundlagen, den Primärquellen, befasst hat. Darunter unter anderem Materialien aus dem Archiv der SFH.

Gregor Spuhler: Sie verleihen aktuellen Diskussionen historische Tiefe. Erwerbsverbot und Arbeitsintegration, Unterbringung von Flüchtlingen bei Privaten oder in Kollektivunterkünften, Verschärfung von Grenzkontrollen und Ausschaffungen, Konflikte zwischen Bund und Kantonen: das sind ja alles Dauerbrenner, und ein Blick in die Archive zeigt, was wie funktionierte und was es für die verschiedenen staatlichen und privaten Akteure – inklusive der Flüchtlinge! –  bedeutete.

Kann die Arbeit mit Archivalien helfen, geschichtliche wie auch heutige Ereignisse besser zu verstehen?
Gregor Spuhler: Man sagt gemeinhin, die Kenntnis der Vergangenheit hilft die Gegenwart zu verstehen. Mittlerweile denke ich, es verhält sich vielleicht auch umgekehrt. Mir war bei meiner Beschäftigung mit Deutschland zwischen 1933 und 1935 nämlich immer schwer verständlich, dass sich so viele Deutsche von einem Typen wie Hitler ihr Heil erhofften, dass die Wirtschaftseliten sich so opportunistisch verhielten und dass die Opposition so chancenlos war. Die gegenwärtigen Ereignisse lassen vieles, was damals geschah, plötzlich als gar nicht mehr so fremd erscheinen. Selbstverständlich wiederholt sich Geschichte nicht, und die 1930er Jahre sind von unserer Gegenwart sehr weit entfernt. Und doch würde ich sagen: Ja, die Arbeit mit Archivalien hilft nicht nur die Vergangenheit zu verstehen, sondern sie schärft auch unser Bewusstsein für Entwicklungen und Handlungsmöglichkeiten in der Gegenwart.

SFH-Archivalien: Wer forscht was?
Im Zeitraum von 2010 bis 2025 betrafen 220 Recherchen die Materialien der SFH-Bestände. Pro Jahr forschten im Durchschnitt 12 Personen meist aus dem akademischen Bereich (78), aus der Lehre und Forschung (39), zu privaten Zwecken (30), für eine eigene Publikation (25), zur amtlichen Abklärung (21), aus schulischen (9), journalistischen (8) oder aus unbekannten Gründen (10). Die Themen variierten stark, wobei Recherchen zu ungarischen Geflüchteten, zur Geschichte der Schweiz und den jüdischen Flüchtlingen vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg sowie in ebenfalls im Archiv aufbewahrten Nachlässen von Jüdinnen und Juden am meisten interessiert haben. Die Angaben basieren auf den Anträgen, die die Besucherinnen und Besucher selbst ausfüllen. 

Gregor Spuhler
Der promovierte Historiker leitet das Archiv für Zeitgeschichte der ETH seit 2007. Er dissertierte mit seinen Forschungen über «Frauenfeld. Geschichte einer Stadt im 19. und 20. Jahrhundert». Von 1997 bis 2001 war er einer der drei Projektleiter bei der Unabhängigen Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg und schrieb als Co-Autor an den Bergier-Berichten, unter anderem dem Flüchtlingsbericht, mit. 
Gaby Pfyffer ist seit 2014 wissenschaftliche Mitarbeiterin im Archiv für Zeitgeschichte. Die Kulturwissenschaftlerin mit Schwerpunkt Geschichte arbeitet hauptsächlich in der Erschliessung von Beständen, darunter auch das SFH-Archiv. 

 

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