L'image montre une mère et sa fille ukrainiennes dans un jardin

Mutter und Tochter – vom Krieg getrennt und trotzdem verbunden

17. April 2025

Sophie und ihre Mama Anna leben weit voneinander entfernt – die eine in der Schweiz, die andere in der Ukraine. Wir haben sie gebeten, uns einen Einblick in ihre Geschichte zu geben und zu erzählen, wie sich ihre Beziehung im Laufe der Zeit durch die räumliche Trennung, den Krieg und die Angst, sich womöglich nie wiederzusehen, verändert hat.

Getrennte Wege

Sophie Etienne ist 22 Jahre alt. Sie studiert Architektur im Kanton Waadt. Sie ist Einzelkind und wurde in der Schweiz als Tochter eines Schweizer Vaters und einer ukrainischen Mutter geboren. Bis zu ihrem 16. Lebensjahr lebte ihre Mutter Anna mit ihr in der Schweiz. Doch dann zog es Anna zurĂĽck in die Ukraine, die Sehnsucht nach ihrer Heimat war zu gross. Sie wollte dort neu anfangen, denn in der Schweiz fĂĽhlte sie sich nicht wirklich zu Hause. Von da an lebte Sophie allein mit ihrem Vater. In den Ferien besuchte sie ihre Mutter jedoch regelmässig. «Alles war gut. Ich flog mehrmals im Jahr in die Ukraine, um Zeit mit meiner Mutter und mit meinen Grosseltern zu verbringen.»

Und plötzlich war da Krieg

Als im Februar 2022 der Krieg ausbrach, kam das für Sophie völlig unerwartet. Sie erinnert sich noch ganz genau an diesen Moment: «Meine Mutter rief mich an, während ich schlief. Sie war völlig aufgelöst. Ich war alleine in meiner Wohnung, total überfordert. Damals war ich Single. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, und hatte niemanden, dem ich mich anvertrauen konnte. Ich wollte niemanden zur Last fallen. Zum Glück nahm mich eine Freundin bei sich auf.» Am Morgen nach Kriegsbeginn stand Sophies beste Freundin vor ihrer Tür. «Sie hat die Initiative ergriffen, mich bei sich aufgenommen und mir unglaublich viel geholfen. Sie wusste, wie schwer es für mich war, dass alles über die Nachrichten zu erfahren. Obwohl sie eigentlich Unterricht hatte, liess sie alles stehen und liegen. Sie hat mich sogar zur polnischen Grenze begleitet, um meine Mama dort abzuholen.» Nur wenige Stunden nach Kriegsbeginn fuhren Sophie, ihre beste Freundin und deren Mutter mit dem Auto Richtung Polen. Sie besorgten Lebensmittel, um vor Ort möglichst vielen Menschen zu helfen, die aus dem Land flohen.

Sophie erinnert sich an diesen Tag, der sich in ihr Gedächtnis eingebrannt hat: «Es war eine lange und besondere Reise. Die Fahrt dauerte mehrere Tage. Es war kein unbeschwerter Roadtrip, bei dem man singt und Musik hört. Ich war durchgehend angespannt. Denn ich war zwar in Kontakt mit meiner Mutter, wusste aber nicht, ob sie noch leben würde, wenn wir ankommen. Meine Mama hatte schreckliche Angst. Sie hat zwei Tage lang nicht geschlafen.» Anna wohnte am Stadtrand von Kiew. Als sie, wie so viele andere Menschen auch, floh, hatte sie Schwierigkeiten, ihr Handy aufzuladen und an Benzin zu kommen. «Es war ein Albtraum für sie. Manchmal hörte ich stundenlang nichts von ihr und dachte, sie sei tot. Ich werde diesen Tag nie vergessen.»

Eine schwierige Entscheidung

An der Grenze konnte Sophie ihre Mutter wieder in die Arme schliessen, und gemeinsam kehrten sie in die Schweiz zurück. Beide engagierten sich, um den aus der Ukraine geflüchteten Menschen bei der Integration zu helfen. Sophie unterstützte unter anderem eine Ärztin dabei, eine Stelle im Freiburger Spital zu finden, wo diese nun seit mittlerweile zwei Jahren arbeitet. Allerdings fühlte sich Sophie unwohl damit, dass Menschen aus der Ukraine in der Schweiz besser behandelt und aufgenommen wurden als andere Menschen. Dass es vielen Ukrainerinnen und Ukrainern schwer fällt, sich in der Schweiz eine Zukunft aufzubauen oder eine neue Familie zu gründen, liegt Sophie zufolge daran, dass sie eigentlich nur eines wollen: in ihre Heimat zurückkehren.

Sophie erinnert sich auch an eine unangenehme Erfahrung, als sie in den Sommerferien 2024 mit ihrer Mutter mit dem Auto in den Süden Frankreichs reiste. Die Leute musterten sie: «Sie starrten uns an, viel mehr als zu Beginn des Krieges. So als ob die Menschen ihr Mitgefühl verloren hätten. Anfangs wurden aus der Ukraine Geflüchtete sehr herzlich aufgenommen, manchmal besser als Menschen anderer Nationalitäten. Mittlerweile ist das ganz anders.»

Anna lebte sechs Monate lang in der Einzimmerwohnung ihrer Tochter. In dieser Zeit engagierte sie sich gemeinsam mit Sophie in Hilfsorganisationen, um anderen Geflüchteten zu helfen. Trotzdem fühlte sie sich in der Schweiz nach wie vor nicht wirklich zu Hause, es fiel ihr schwer, sich zu integrieren. Als Anna einige Monate nach Kriegsbeginn aus administrativen Gründen zurück in die Ukraine musste, hatte sie eigentlich nicht vor, dort zu bleiben. Vor Ort merkte sie jedoch, dass sie sich in ihrer Heimat einfach wohler fühlt. Sie konnte sich nicht mehr vorstellen, in die Schweiz zurückzukehren. «Trotz des Krieges und der Gefahr war sie erleichtert, wieder zu Hause zu sein, bei ihren Hunden. Und das Zusammenleben in meiner Einzimmerwohnung war auch nicht immer einfach», erklärt Sophie.

Ein Alltag, in dem die Bomben fallen

Seit Anna wieder zurück in der Ukraine ist, in ihrem Haus nahe Kiew, hört sie täglich Raketen, abgeschossene Drohnen und Luftalarmsirenen. Ein schwieriger Alltag. Die Behörden sind verpflichtet, den Alarm auszulösen, für den Fall der Fälle. Über eine App auf dem Handy werden die Einwohnerinnen und Einwohner mehrmals täglich, je nach Zone gewarnt. Anna ist der Warnzone Kiew zugeordnet. Sophie und ihre Mama telefonieren täglich. Manchmal hört Sophie dabei die Raketen in der Nähe ihrer Mutter einschlagen.

Trotz des Krieges machte sich Sophie im Sommer 2024 allein mit dem Bus auf den Weg in die Ukraine, um ihre Mutter zu besuchen. Ihrem Vater erzählte sie nichts davon, aus Angst, er wĂĽrde sie davon abhalten. An der Grenze reagierte man mit Erstaunen auf die junge Frau mit Schweizer Pass. Sophie selbst gesteht, dass es sie nicht nervös machte, in die Ukraine zu reisen. Obwohl sie in der Schweiz lebt, hatte sie immer das GefĂĽhl, in der Ukraine zu sein. Denn sie verfolgt rund um die Uhr alles, was dort passiert. «Innerlich ist es, als wäre ich dort. Es ist mein Herzensland.» Als sie in Kiew ankam, spĂĽrte sie sofort die seltsame Stimmung: «Die Menschen schlendern durch die Einkaufszentren, versuchen, ein normales Leben zu fĂĽhren, und dann heult plötzlich die Sirene und man mĂĽsste sich eigentlich in Sicherheit bringen. Aber niemand macht das mehr, weil man jedes Mal in den Keller, in den Untergrund mĂĽsste. Die Menschen haben sich damit abgefunden und sagen sich, dass es ein grosses Land ist und es schon nicht genau sie treffen wird.»

Sophies Familie ist klein und bisher ist zum Glück niemand davon durch den Krieg ums Leben gekommen. Aber als Anna in ihr Dorf zurückkehrte, fand sie Trümmer in ihrem Haus, Überreste der durch Bombenangriffe zerstörten Gebäude ringsum. Das Haus selbst war nicht zerstört. Sophie erzählt, dass das Dorf zu Beginn des Krieges von russischen Soldaten besetzt wurde, als ihre Mutter bereits in der Schweiz war: «Alle wurden getötet. Meine Grosseltern sassen am Anfang fest. Doch dann schafften sie es, mit dem Auto in die Niederlande zu fahren, wo eine Tante lebt.»

Anna lebt derzeit mit ihren vier Hunden in ihrem Haus. Sophie spricht immer noch jeden Tag mit ihr. Jedes Mal, wenn sie ein paar Stunden lang nichts von ihrer Mutter hört und in den Nachrichten von Bombenangriffen berichtet wird, steigt die Angst in ihr auf. Trotzdem bedauert sie: «Irgendwann habe ich begonnen, das alles auszublenden. In den ersten Monaten war ich ständig gestresst, in Panik. Ich sah und teilte Videos von sterbenden Menschen. Und jetzt habe ich ein schlechtes Gewissen, weil ich es ausblende. Aber um weiterzumachen, um zu leben, muss man sich ein StĂĽck weit von den Medien abkoppeln. Man muss loslassen.» Sophie erzählt weiter: «Ich lebe hier in aller Ruhe, während meine Mutter in ständiger Gefahr ist. Aber manchmal muss ich das einfach vergessen. Meine Mama fĂĽhlt sich hin- und hergerissen. Es setzt ihr etwas zu, dass sie aus der Schweiz weg wollte, um sich ein neues Leben aufzubauen, das aber nicht so geschafft hat, wie sie es sich vorgestellt hat. Deshalb fĂĽhlt sie sich innerlich die ganze Zeit hin- und hergerissen, weil sie eigentlich gerne bei ihrer Tochter geblieben wäre.»

Krieg darf kein Tabuthema sein

Für Sophie ist es wichtig, ihre Geschichte und die des ukrainischen Volks weiter mit der Welt zu teilen. «Es gibt genug Anlass, das alles zu dramatisieren. Aber ich erwarte nicht, dass mich die Leute bemitleiden, und ich will auch nicht die Aufmerksamkeit auf mich lenken. Aber ich will nicht aufhören, darüber zu sprechen. Ich will nicht, dass es ein Tabuthema ist.»

Am schwierigsten sind die Reaktionen ihres Umfelds. Als Sophie regelmässig Bilder der Bombardierungen in Kiew postete und erklärte, dass sich ihre Mutter dort aufhält, sagte eine ihrer damals engsten Freundinnen zu ihr: «Zumindest ist die Hauptstadt in der Ukraine verschont geblieben.» Sophie antwortete darauf: «Wenn du wirklich meine Freundin wärst, wüsstest du, was ich durchgemacht habe.» «Ich verlange nicht, dass die Leute alles wissen, aber wenigstens ein Minimum. Für mich ist das noch immer eine grosse Belastung.» Sophie postet weiterhin regelmässig Informationen über die Lage in der Ukraine. Doch sie stellt fest, dass die Leute heute ganz anders darauf reagieren als vor drei Jahren. «Die Menschen brauchen Abwechslung. Wer zum Beispiel den ganzen Tag auf TikTok ist, hat schnell genug davon, immer wieder dasselbe zu hören. Wir leben in einer Zeit, in der Leid normalisiert wird, weil wir es aus dem Fernsehen und Videospielen gewohnt sind. Ein paar verstümmelte Körper schockieren kaum noch jemanden.»

Wenn Krieg zusammenschweisst

Die Beziehung zwischen Sophie und ihrer Mutter ist heute noch enger als vor dem Krieg, obwohl sie sich schon damals sehr nahestanden. Die Studentin gesteht, dass die Angst, ihre Mutter möglicherweise nie wiederzusehen, ihr bewusst gemacht hat, wie wertvoll die Zeit mit geliebten Menschen ist. «Ich versuche, jede gemeinsame Minute bewusst zu leben. Ich kann ihr nicht alle fĂĽnf Minuten schreiben, aber das, was wir durchgemacht haben, hat uns noch stärker zusammengeschweisst.» Abschliessend sagt Sophie: «Ich weiss, dass ich ein wirklich besonderes Leben habe.» Diesen Sommer möchte sie ihre Mutter wieder in der Ukraine besuchen. Und auch dieses Mal wird sie ihrem Vater nichts davon erzählen.

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