Tausend Möglichkeiten, Langeweile und Einsamkeit

12. Oktober 2023

Er flüchtete mit 16 Jahren aus Afghanistan in die Schweiz und stellte im September 2022 in einem Bundesasylzentrum ein Gesuch. Nach dreieinhalb Monaten wurde er dem Kanton Basel-Landschaft zugewiesen und kam auf den Erlenhof in das Erstaufnahmezentrum für unbegleitete minderjährige Asylsuchende. Inzwischen wohnt A.B.* in einem Wohnheim (WUMA) und macht auf dem Erlenhof bald ein Praktikum als Elektromonteur.

Interview: Barbara Graf Mousa, Redaktorin SFH

Wie geht es dir heute in der Schweiz?

«Es geht mir gut. Das WUMA-Team unterstützt uns bei den Hausaufgaben, beim Erlernen der Sprache und hilft uns, die Kultur hier zu verstehen und auch die Disziplin zu üben und Regeln einzuhalten. Das sind nur einige positive Beispiele und wir schätzen das sehr.»

Alles bestens also?

«Jetzt bin ich genau ein Jahr in der Schweiz. Ich wollte zwar an einen ruhigen Ort, aber dieses Wohnheim hier ist schon sehr abgelegen. Es ist ein bisschen langweilig. Zu Beginn funktionierte das WIFI nicht, also kein Internet, und es geht hier recht lange, bis etwas repariert oder geändert wird. Auf dem Erlenhof machten wir mehr Ausflüge und Sport zusammen. Ich lernte dort mehr Menschen kennen als hier.»

Würdest du lieber in einer Pflegefamilie wohnen?

«Ich überlege es mir und spreche gerade mit meinem Sozialarbeiter darüber. Bevor ich eine Entscheidung treffe, möchte ich aber mehr darüber wissen, wie das Zusammenleben und der Umgang miteinander in einer Familie funktioniert.»

Mit wem wohnst du hier zusammen?

«Wir sind 15 junge Männer. Wir kommen alle aus verschiedenen Gebieten Afghanistans, jeder mit seiner eigenen Sprache und Kultur, und doch haben wir uns harmonisch zusammengefunden, Freundschaft geschlossen und helfen uns gegenseitig.»

Wie sieht deine Woche aus, was machst du in der Schule und was in deiner Freizeit?

«Ich besuche jeden Morgen von 9 bis 12 Uhr in Muttenz die Schule zusammen mit anderen Flüchtlingen. Ich muss dringend gut Deutsch lernen, das ist sehr wichtig. Zweimal in der Woche gehe ich Joggen und manchmal besuche ich in einem anderen WUMA ein paar Freunde und Kollegen.»

Was gefällt dir hier gut?

«Ich mag klare Strukturen und Ziele sehr. Ich finde die Angebote super, man kann hier so viel machen. Ich bin froh und dankbar, hier in Sicherheit zu sein. Ich werde im Oktober auf dem Erlenhof ein Praktikum als Elektromonteur beginnen, darauf freue ich mich sehr.»

Was ist schwieriger?

«Manchmal geht es lange, bis etwas definitiv entschieden ist. Weisst du, dann hat man sich selbst endlich für einen Weg entschieden und freut sich darauf. Wenn es dann nicht funktioniert, dann frustriert mich das manchmal auch.»

Wie finanzierst du dein Leben hier?

«Ich bekomme pro Monat 150 Franken; davon bezahle ich mein Handy, meine Kleider, Hygieneartikel und was ich sonst noch brauche. Für das Essen gibt es 70 Franken pro Woche und Bus- und Tramabonnemente sind auch bezahlt.»

Magst du etwas erzählen über dein Leben zuvor?

«Ich bin in der Hauptstadt Afghanistans, in Kabul, aufgewachsen und habe zehn Jahre die Schule besucht. Zusätzlich habe ich privat Englisch und Mathematik gelernt. Mein Vater starb als ich fünf Jahre alt war, meine Mutter arbeitete bis vor der Machtergreifung durch die Taliban im Verteidigungsministerium. Auch zwei meiner vier Brüder arbeiteten für die alte Regierung.»

Und du hast als jüngster Sohn dein Heimatland allein verlassen?

«Ich habe einen biometrischen Pass und konnte damit nach Pakistan reisen, von dort nach Österreich und über Frankreich dann in die Schweiz. Auch meine Familien möchte Afghanistan verlassen, doch sie würde an der Grenze zurückgewiesen werden und kein Visum erhalten, für sie ist es viel zu gefährlich.»

Hast du regelmässig Kontakt mit deiner Familie?

«Einmal die Woche telefoniere ich mit meiner Mutter und meinen Brüdern, ich vermisse sie alle sehr». Die Tränen schiessen A.B. in die Augen, er schaut auf seinen blauen Ring und erzählt weiter: «Meine Mutter hat mir diesen Ring geschenkt, er ist sehr wichtig für mich. Einmal war er verschwunden und ich durchsuchte zwei Wochen lang alles, bis ich ihn wieder fand – der Ring kommt immer wieder zu mir zurück.»

Musst du deiner Familie Geld schicken?

«Nein, meine Familie macht mir keinen Druck wegen des Geldverdienens. Meine Mutter wünscht sich nur, dass ich in Sicherheit bin und dass ich ein neues Leben in der Schweiz aufbauen kann.»

Hast du schon einen Asylentscheid bekommen?

«Ja, ich bin vorläufig aufgenommen worden und habe dagegen Beschwerde eingereicht. Ich verstehe das nicht. Ich kann beweisen, dass meine Familie und ich in Afghanistan in grosser Gefahr sind, ein Anwalt unterstützt mich dabei.»

Welches sind deine drei Wünsche für die Zukunft?

«Ich möchte mehr Freunde finden und die Gesellschaft in der Schweiz besser kennenlernen. Vielleicht finde ich während des Praktikums auf dem Erlenhof mehr Gelegenheit dazu. Ich wünsche mir zweitens mehr Tagesstruktur, so wie es am Anfang auf dem Erlenhof war. Und drittens hätte ich gerne mehr Rechte als ich es jetzt mit dem F-Ausweis habe. Ich kann damit nicht ins Ausland reisen und eine Arbeit zu finden, ist mit dem F-Ausweis viel schwieriger.»

*A.B. möchte anonym bleiben, um seine Familie in Afghanistan nicht zu gefährden. Die Mutter und die Brüder arbeiteten vor der Machtübernahme der Taliban für internationale Organisationen und für die ehemalige Regierung. Sie gelten in den Augen des Talibanregimes deshalb als «Verräter», ihr Risikoprofil ist hoch. (Bericht der SFH-Länderanalyse, November 2022)

 

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