Die andere Schweiz: Im Einsatz für Demokratie

27. Mai 2025

Wer genau ist «die andere Schweiz»? Welche Akzente haben ihre Vertreterinnen und Vertreter im Schweizer Asylwesen ab den 1970er Jahren gesetzt? Der Historiker Jonathan Pärli ordnet im vertieften Gespräch die Erkenntnisse aus seiner Doktorarbeit «Die andere Schweiz. Asyl und Aktivismus 1973-2000» ein.

Buch Jonathan Pärli: Die andere Schweiz, Asyl und Aktivismus 1973-2000

Interview: Esther Müller, Historikerin und Journalistin BR 

Esther Müller: Sie setzen mit Ihrer Forschung 1973 ein. Warum setzt die Geschichte des Asyl-Aktivismus genau dann ein? 

Jonathan Pärli: Der auslösende Faktor für das Entstehen einer zivilgesellschaftlichen Bewegung ist die Reaktion des Bundesrates auf den Militärputsch in Chile am 9. September 1973. Die demokratisch gewählte sozialistische Regierung Salvador Allendes wird vom Militär und mit verdeckter Unterstützung der US-Regierung gewaltsam gestürzt. Der Bundesrat will jedoch – und auch dies erst nach öffentlicher Kritik – nur 200 Flüchtlinge aus Chile aufnehmen, die zuvor vor rechten Regimes dorthin geflüchtet waren und Asyl erhalten hatten. Wichtiger Hintergrund ist die in den Jahren zuvor erst richtig in Gang gesetzte Debatte um die Flüchtlingspolitik der Schweiz im Zweiten Weltkrieg. Dazu kommt die unter antikommunistischen Vorzeichen ins Werk gesetzte relative Willkommenskultur für Flüchtlinge aus Ostblockstaaten nach 1945. Für die Gründung der Freiplatzaktion für Chile-Flüchtlinge und deren Resonanz war dies wichtig: Es lag der dringende Verdacht in der Luft, die offizielle Schweiz wolle die vielbeschworene Asyltradition erneut verraten. Und dies aus rechtsbürgerlicher Borniertheit: Weil man keine Sympathien für das demokratisch-sozialistischen Experiment unter Allende hat. Der öffentliche Widerspruch von Aktivistinnen und Aktivisten aus unterschiedlichen Hintergründen und ihre Aufforderung, mehr Menschen aufzunehmen, macht dem Bundesrat sein bis dahin in Anspruch genommenes Recht streitig, über asylpolitische Fragen mehr oder weniger allein entscheiden zu können.   

Ab den späten 1970er und frühen 1980er Jahren kommen vermehrt Asylsuchende aus dem Globalen Süden ins Land. Sie kommen nicht selten aus repressiven Staaten, die von der Schweiz unterstützt werden.  

Genau. Die Schweiz nimmt jedoch noch immer nach dem Freund-Feind-Schema des Kalten Krieges Flüchtlinge auf. Auch wird in der gesellschaftspolitischen Debatte um Asyl und Migration postuliert, die Bevölkerung habe genug von den vielen Fremden im Land, die ja oft gar keine «richtigen» Flüchtlinge seien. Deshalb müsse die Asylpolitik restriktiver werden. Die Bewegung wehrte sich vehement gegen das Bild der letztlich schlicht als rassistisch beschriebenen Bevölkerung. Bei der Selbstbezeichnung als «die andere Schweiz» ging es genau darum: einen Unterschied zum in der öffentlichen Debatte gezeichneten Bild des urwüchsig negativ gestimmten Volks sichtbar zu machen. So entsteht unter dem Namen «die andere Schweiz» ein neues politisches Subjekt, das sich ungehörig in die Asyldebatte einmischt.  

Kamen diese neuen zivilgesellschaftlichen Gruppierungen und Geflüchtete in Kontakt miteinander? 

Ja, Begegnungen haben sogar eine zentrale Rolle gespielt. Das erste Kirchenasyl, das 1981 in Genf stattfand, ist ein wichtiges Beispiel: Es waren abgewiesene türkisch-kurdische Flüchtlinge, die auf die Kirchgemeinde in Eaux-Vives zugegangen waren. Auch Heidi und Peter Zuber, sie gründeten die wichtige «Aktion für abgewiesene Asylbewerber» (AAA), begannen ihr Engagement, als sie Tamilinnen und Tamilen aus einer kollektiven Unterkunft kennenlernten. Diese lag zufällig in der Nähe ihres Wohnorts, dem «Waldheim» am Rand von Ostermundigen bei Bern. Beide Beispiele zeigen, wie wichtig die Rolle der Flüchtlinge selbst war. Einige von ihnen haben auch eindrücklich öffentlich auf einen Widerspruch hingewiesen: den Widerspruch zwischen dem von der offiziellen Schweiz gezeichneten Bildes eines Landes mit einer grossen humanitären Tradition und der tatsächlichen Behandlung von Flüchtlingen in der Schweiz. «Wenn die Schweiz nur Asylland für Kapital ist, das aus der Dritten Welt kommt, möge sie die Verantwortung dafür übernehmen, dies offiziell zu vertreten, statt weiter mit zwei Zungen zu sprechen», sagte etwa der Geflüchtete Yapa Mouké 1984 in einem Leserbrief in der Freiburger Zeitung «La Liberté». Er war nicht der Einzige, der die Asylpolitik mit dem Finanzplatz kontrastierte. 

Welcher Forschungsbefund hat Sie am meisten überrascht bei Ihrer Arbeit?

Die Parole «In den Rechten der Asylsuchenden und Flüchtlingen verteidigen wir unsere eigenen Rechte» hat mich produktiv irritiert. Die Bewegung hat das Asylwesen als gesellschaftliches und politisches «Labor» verstanden, als Einfallstor für repressive, autoritäre Tendenzen erkannt. Man argumentierte, Ausschluss und Härte gegen die «Fremden» werde sich auf weitere Gruppen ausweiten und die Gesellschaft als solche verändern. Die Engagierten artikulierten ihre Sache also nicht nur humanitär, sondern als Einsatz für die Demokratie.  

Ist dieses Argumentarium ins heute übertragbar und wenn ja, wie? 

Anlässlich der ersten 100 Tage der neuen Regierung Trump bin ich kürzlich im «Tagesgespräch» von SRF genau hierzu befragt worden: Ja, die eben umrissene Perspektivenumkehr der Aktivistinnen und Aktivisten scheint mir heute angesichts der autoritären Gefahr wertvoll. Die Trump-Regierung schafft Menschen ohne Verfahren in das berüchtigte Hochsicherheitsgefängnis CECOT in El Salvador aus – und behauptet, Gerichte hätten dazu nichts zu sagen. In den USA zeigen sich unter anderem bekannte Jurist*innen und Historiker*innen sehr besorgt. Wenn das durchgeht, sind durchaus auch einheimische Oppositionelle in Gefahr, zu «verschwinden». 

Was kann das für die Schweiz bedeuten? 

Der herrschende Tenor ist ja, dass man «endlich» Migration und vor allem Fluchtbewegung kontrollieren und die Grenzen sichern sollte. Denn sonst würden die rechtsautoritären Parteien und Kräfte unweigerlich noch stärker und Demokratie und Rechtsstaatlichkeit auf diesem Weg bedroht. Es ist wichtig, auch die entgegengesetzte Perspektive einzunehmen und sich zu fragen: Wenn die Schweiz oder ein anderer Staat zu sehr auf die Karte der Migrationsabwehr «um jeden Preis» setzt, drohen nicht Demokratie und Rechtsstaatlichkeit Schaden zu nehmen? Letzthin habe ich die berühmte letzte Rede von Friedrich Dürrenmatt «Die Schweiz – ein Gefängnis» von 1990 zur Hand genommen: Dürrenmatt spielt dort auch auf die sich verhärtende Asylpolitik an. Der kürzlich verstorbene Peter Bichsel sprach davon, die SVP missbrauche die Asylpolitik, um letztlich den Sozialstaat anzugreifen. Dafür gibt es durchaus Belege. Kurz: Radikale Migrationsabwehr kann ins Innere von Gesellschaften ausgreifen. Diese Optik mit in die – durchaus herausforderungsreiche – Auseinandersetzung um Asyl und Migration einzubeziehen, scheint mir sehr wichtig.  

In der momentanen Debatte wird wieder gerne «das Volk» zitiert. Wie ordnen Sie das ein?  

Einerseits ist klar: Eine solche Rhetorik verfängt, wie Wahlergebnisse in Deutschland und anderen Ländern zeigen. Aber wenn pauschal vom «Volk» und seiner Stimmungslage die Rede ist, sollte man dagegenhalten und die Aussagen kritisch hinterfragen. In der Asyldebatte in der Schweiz seit den 1980er-Jahren haben die tonangebenden und politisch verantwortlichen Kreise die negative Volksstimmung stets so getan, als habe die Politik keinen Einfluss auf diese Stimmung und müsse sich ihr schlicht fügen. So einfach sind die Dinge natürlich nicht! Zudem fällt auf, dass der «Volksstimmung» und den Sorgen und Ängsten in anderen Fragen in der politischen Arena viel weniger Gewicht beigemessen wird – sonst hätten wir, denke ich, längst eine ganz andere Wohn- oder Klimapolitik. 

Hören Sie heute Stimmen einer «anderen Schweiz» in den asylpolitischen Debatten? 

Ja, unbedingt, auch wenn die Bezeichnung an sich nicht verwendet wird. Mir fällt unter anderem Solidarité sans frontières ein, die aus der Bewegung der 80er Jahre entstanden ist. Auch gibt es in der Migrationsforschung Autorinnen und Autoren, die die Gefahr vom Ausgreifen der Gewalt an den Grenzen thematisieren und vor ihr warnen: Volker Heins und Frank Wolff in ihrem kürzlich erschienen Buch «Hinter Mauern». Wenn ich das, was ich untersucht habe, mit meiner Wahrnehmung und Einschätzung der Gegenwart in Verbindung setze, würde ich sagen: Es gibt wohl ähnlich viele aktive Organisationen, die sich lokal einsetzen. Was ich weniger wahrnehme, ist eine breite, überregional koordinierte Bewegung, die in der Schweizer Öffentlichkeit als eine Stimme hörbar wäre. 

Kann die Debatte im Asylwesen heute noch ausschliesslich innerhalb der eigenen Landesgrenzen geführt werden? 

Ich nehme im Heute eine stärkere, erfolgreichere und effektivere grenzüberschreitende Zusammenarbeit wahr als im von mir untersuchten Zeitraum. Ich denke, das muss in Zusammenhang gestellt werden mit dem, was an den Aussengrenzen Europas unter dem Stichwort der «Externalisierung» stattfindet. Dort verorte ich auch aktuell den grössten und drängendsten Handlungsbedarf. Die Situation der Asylsuchenden in der Schweiz ist vergleichsweise besser als die der Menschen an den Aussengrenzen der EU. Zwar sind die Asylverfahren und Lebensbedingungen in den Schweizer Asylzentren sicher alles andere als einfach und komfortabel. Hingegen steht, wer es heute in der Schweiz ins Asylverfahren schafft, in vielerlei Hinsicht zumindest nicht schlechter da als in den 1980er Jahren. Und das trotz der vielen Verschärfungen im Asylgesetz. Denn früher foutierten sich Fremdenpolizei und Migrationsbehörden schlicht um das geltende Recht und machten, was ihnen gerade passte. 

Welche Fragen sind in der heutigen Migrations- und Asyldebatte Ihrer Ansicht nach zentral? 

Letztlich geht es um ein grundsätzliches Hinterfragen der Kategorien von «zugehörig» und «nicht zugehörig». Es gibt die, die qua Geburt die «richtige» Staatsbürgerschaft haben und deren Rechte und Freiheiten gesichert scheinen. Und auf der anderen Seite haben wir die, die um Aufnahme in diesen Kreis bitten. Werden sie abgewiesen, wird das als persönliches Pech verstanden. Eine überindividuelle gesellschaftspolitische und rechtsstaatliche Dimension wird leider noch oft ausgeblendet. Beginnt man aber, staatliche Zugehörigkeit nicht als Verdienst, sondern als Zufall zu verstehen, verändert dies den Blick auf Migrations- und Asylfragen grundsätzlich.  

Sind also Geburtsprivilegien an sich undemokratisch? 

Geht man davon aus, dass man nichts dafür kann, wo man geboren wird, muss sich dem die Frage anschliessen, wie legitim es ist, einem Staat zufällig anzugehören. Das «Volk» kann in einer Demokratie unterschiedlich gedacht und begründet werden. Ethnisch im Sinne von Abstammung. Aber dann hat man eigentlich eine Ethnokratie. Oder man definiert das Volk als diejenigen, die sich an einem Ort leben und sich «einfach so» einbringen und einmischen. Demokratie ist, wie etwa Jacques Rancière betont, eigentlich eine Absage an die klassischen Titel, die zum Regieren und Herrschen legitimieren: Die richtige Geburt, Expertise, Reichtum oder Tugend. Das ist ein Demokratieverständnis, das nicht ein gesellschaftliches «innen» und «aussen» in den Mittelpunkt rückt, sondern Demokratie als Selbstregierung versteht, bei der die Regierung und die Regierten letztlich deckungsgleich sind. Ansätze dazu finden sich in der Eidgenössische Volksinitiative «Für ein modernes Bürgerrecht (Demokratie-Initiative)».  

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