Sich gegenseitig Perspektiven öffnen

27. Mai 2025

Aus einem Sprach-Tandem kann vieles wachsen. Neben besseren Sprachkenntnissen vermitteln sich Tandem-Partnerinnen und -Partner regelmässig Einblick in ihren jeweiligen Alltag. Spielen dabei gegenseitige Sympathie, Neugier und Anteilnahme mit und mit etwas Glück auch ein paar gemeinsame Interessen, kann das Sprach-Tandem der Beginn einer tragenden Freundschaft sein.

Von Barbara Graf Mousa, Redaktorin SFH 

Tohid Jalili, 37, und Yannick Schiliger, 36, sind heute dicke Freunde. Denn sie gehen zusammen durch «dick und dünn», teilen Schwieriges und Schönes miteinander und sind – wenn es darauf ankommt – immer füreinander da. Ihre Geschichte ist kein Märchen, sondern die Geschichte einer gewachsenen, tiefen Männerfreundschaft.  Zwischen zwei Männern, die sich zuerst mit Neugier und Respekt begegnet sind, sich auf Anhieb mochten und dank vieler gemeinsamer Interessen so viel Zeit miteinander verbrachten, dass daraus eine stabile Freundschaft geworden ist. «Dank Yannick habe ich das Gefühl, dass ich in der Schweiz angekommen bin», sagt Tohid. Yannick strahlt: «Ursprünglich ging es ums Deutschlernen – heute schätze ich den Austausch und die Freundschaft».  

Gesucht: Sprachpraxis 
Tohid Jalili studierte in seinem Herkunftsland Baumechanik. Er kommt aus dem Norden Irans und musste aus politischen Gründen flüchten. 2018 kam er in die Schweiz und wurde nach seiner Anhörung dem Kanton Luzern zugeteilt: «Mir war klar, ich komme in meiner neuen Heimat nur weiter, wenn ich mich verständigen kann. Die Sprache ist der Schlüssel, der alle Türen öffnet», berichtet er rückblickend. Doch Sprachkurse für Menschen mit einer vorläufigen Aufnahme sind je nach Kanton eine schwierige Sache; die Finanzierung liegt in deren Ermessen und viele Kantone unterstützen Geflüchtete mit einem F-Ausweis bloss für einen Kurs. Für beruflich ausreichende Sprachkenntnisse, erwünscht sind von den Arbeitgebenden in der Regel das Niveau B2, ist dies meist zu wenig. Also suchte sich Tohid Jalili Hilfe bei der Flüchtlingsorganisation «HelloWelcome» und fand sie mit dem Angebot eines Sprach-Tandems. 

Gesucht: Sinnvolles Engagement 
Yannick Schiliger hatte damals beruflich viel mit Datensätzen und Strategien zur Umsatzsteigerung zu tun. Der kaufmännisch Ausgebildete und Absolvent eines Wirtschaftsstudiums erzählt: «Oft habe ich mich bei meiner Arbeit gefragt, was ist wirklich wichtig im Leben? Ich wollte mich für Menschen einsetzen und dachte viel über ein Engagement nach, wo die Menschen im Mittelpunkt stehen.» Er meldete sich bei «HelloWelcome», weil ihn deren Angebote für Freiwillige überzeugten: «Ich wünsche mir, dass noch mehr Schweizerinnen und Schweizer den Weg ins «HelloWelcome» finden», lobt er das Wirken dieser lokalen Flüchtlingsorganisation. «Hier begegnen sich jeden Tag Menschen mit und ohne Fluchterfahrung. Die Stimmung ist freundlich, oft konzentriert und arbeitsam, aber stets einladend und manchmal auch lustig.» Yannick Schiliger entschied sich, eine geflüchtete Person mittels Sprach-Tandems beim Deutschlernen zu unterstützen.  

Komplexe Integration 
So kamen Yannick Schiliger und Tohid Jalili erstmals in Kontakt miteinander. Ihr Sprach-Tandem begann 2021 während der Covid-Zeit. Die Neugier und die gegenseitige Sympathie waren von Beginn weg gross und so kam es trotz schwieriger Rahmenbedingungen bald zum ersten Treffen. Das Deutschlernen stand zunächst im Vordergrund. Bald schon kamen administrative Aufgaben, manchmal Behördengänge dazu und der Einblick in den komplexen Integrationsprozess eines soeben vorläufig Aufgenommenen beeindruckte Yannick Schiliger: «Ich glaube, wenn mehr Menschen den Integrationsprozess kennenlernen und begleiten würden, gäbe es wohl etwas mehr Verständnis und Wohlwollen gegenüber geflüchteten Menschen. Viele Abläufe sind kompliziert, die Behördenbriefe selbst für Muttersprachler oft kaum zu verstehen», erzählt er. «Dank diesem Tandem und Tohids Vertrauen habe ich einen tiefen Einblick in das Leben eines neuangekommenen Menschen erhalten.» Und nicht nur das: «Der Austausch mit Tohid hat mir Mut gemacht, selbst einen neuen beruflichen Weg einzuschlagen».  

Berufliche Integration mal zwei 
Dank dem Sprach-Tandem entdeckte Yannick Schiliger, dass es ihm Freude macht und es ihm offenbar auch gut zu gelingen scheint, komplizierte Vorgänge vereinfacht zu erklären und Menschen zwischen Traumberuf und Arbeitsrealität zu begleiten. Nun studiert er berufsbegleitend Soziale Arbeit an der Fachhochschule in Luzern. «Und ich liefere sozusagen den Praxisunterricht für Yannick», grinst Tohid Jalili. Die Beiden zwinkern sich zu und lachen herzlich. In der Tat, der Integrationsprozess eines Hochschulabsolventen aus einem Herkunftsland ausserhalb des Schengen-Raums ist herausfordernd: Wie wird ein Universitätsabschluss aus dem Iran in der Schweiz bewertet? Wer ist dafür zuständig und welche Dokumente müssen für diese Einschätzung übersetzt werden? Welche Möglichkeiten bieten die Universitäten in der Schweiz für studierte Geflüchtete? Die beiden Freunde legten sich mächtig ins Zeug, um alle Varianten abzuklären. Darüber hinaus half auch Yannicks Frau Livia mit – die wohl bestmögliche Expertin. Als Berufsschullehrerin unterrichtet sie seit vier Jahren Allgemeinbildung und hat deshalb viel Erfahrung und einen professionellen Überblick über die Möglichkeiten und Grenzen der schweizerische und kantonalen Bildungslandschaften. Bald wurde klar, dass Tohid Jalilis iranischer Master in Baumechanik in der Schweiz leider nicht anerkannt wird. Die Suche nach Alternativen führte in das weite Feld der Polymechanik. Yannicks Frau konnte Tohid die Vor- und Nachteile des schweizerischen dualen Berufssystems gut vermitteln, das die Berufspraxis in einem Lehrbetrieb mit theoretischem Unterricht an einer Berufsschule kombiniert. Tohid erzählt: «Ich habe deshalb im Bereich Polymechanik verschiedene Praktika gemacht und werde im August eine Lehre als Polymechaniker bei der Firma Schindler beginnen. Darauf freue ich mich sehr». Wirklich? Und sein Studium in seinem Heimatland, war das vergebens? «Im Gegenteil, durch die Lehre tauche ich nun fest in die Praxis der Materialien und Abläufe ein, das finde ich mega interessant. Zudem ist es eine notwendige Ergänzung zu meinem theoretischen Wissen», ist Tohid überzeugt und blickt zu Yannick: «Dank ihm und seiner Frau weiss ich, dass eine Lehre neben der Praxis eben auch bedeutet, zu einem Arbeitsteam zu gehören und tief einzutauchen in die schweizerische Mentalität. Das ist mir sehr wichtig, ich kann mich danach immer noch weiterbilden an einer Fachhochschule.» 

Familienangelegenheiten 
Tohid Jalili und Yannick Schiliger treffen sich aktuell ein- bis zweimal im Monat. Das Deutschlernen lässt sich bestens mit ihren zahlreichen gemeinsamen Interessen verbinden. Tohids Wortschatz und Kenntnisse über die Schweiz auf der einen Seite und Yannicks Wissen über den Iran und die persischen Kulturen auf der anderen Seite erweitern sich so auf spielerische Weise: beim Velofahren und Joggen oder beim Besuch eines Fussballspiels, über das sich anschliessend bei einem Bier herrlich streiten lässt – sei es über Tohids FC Luzern oder Grasshopper Club Zürich, Yannicks Herzensverein. Inzwischen ist Yannick zum ersten Mal Vater geworden: «Das ist eine wunderschöne und einzigartige Erfahrung, die das Leben verändert. Wie schön, dass Tohid so Anteil daran nimmt, er ist Teil unserer Familie geworden», freut sich der frischgebackene Papa einer Tochter. Der sichtlich gerührte Tohid ergänzt: «Als Yannick und seine Frau, mich zu ihrer Hochzeit eingeladen haben, da spürte ich ganz im Innern: Jetzt gehöre ich wirklich dazu.» 

 

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