Peter Meier, Leiter Politik & Medien.
Über 100 Millionen Menschen sind aktuell weltweit auf der Flucht vor Konflikten, Gewalt, Menschenrechtsverletzungen und Verfolgung. Der Grossteil von ihnen hat keine Chance, auf sicherem Weg in ein Aufnahmeland zu gelangen, das Schutz und Perspektiven gewährt. Es gibt für Geflüchtete auch nur wenige Möglichkeiten, in europäischen Ländern wie der Schweiz Schutz zu suchen, ohne sich dafür auf lebensgefährliche Fluchtrouten begeben zu müssen – es fehlt an regulären Zugangswegen.
Immerhin: Länder wie Deutschland, Italien und Frankreich haben in den letzten Jahren zusätzlich zu ihren traditionellen Resettlement-Programmen neue sichere Wege für Schutzbedürftige geschaffen, die auf der Beteiligung von lokalen und/oder zivilgesellschaftlichen Akteuren basieren.
Appelle, Petitionen, politische Vorstösse
Solche komplementären Zugangswege als Ergänzung zum bestehenden Resettlement-Programm stehen auch in der Schweiz zur Debatte: Diverse Städte und Gemeinden, aber auch zivilgesellschaftliche Organisationen, Kirchen oder Sponsoren wollen sich stärker an der humanitären Aufnahme, an der Unterbringung und Integration von besonders schutzbedürftigen Geflüchteten beteiligen können – auch finanziell.
Dieses Angebot der Solidarität und Hilfsbereitschaft wird seit Jahren immer wieder an den Bund herangetragen – mit zahlreichen Appellen und Petitionen, aber auch mit einer ganzen Reihe parlamentarischer Vorstösse auf allen politischen Ebenen. So geschehen etwa im Kontext der grossen Fluchtbewegung aufgrund des Syrien-Krieges 2015/16, nach dem Brand des griechischen Elendslagers Moria auf Lesbos 2020 oder nach der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan 2021.
Nichts bewegt sich
Der Bundesrat reagiert bislang mit durchaus wohlklingenden Absichtserklärungen darauf: In verschiedenen Schweizer Städten und Gemeinden habe sich ein sichtbares zivilgesellschaftliches Engagement für Geflüchtete aufgebaut, anerkennt er etwa in seinem 2019 verabschiedeten Umsetzungskonzept Resettlement – und postuliert: «Diese Grundhaltung gilt es für die Schaffung von künftigen legalen Zugangswegen für Flüchtlinge und Vertriebene als Chance zu nutzen.»
Zugleich tritt derselbe Bundesrat aber regelmässig auf die Bremse, sobald es politisch konkret wird: Es fehle eine gesetzliche Grundlage dafür, zuckt er dann jedes Mal mit den Schultern und verweist auf ungeklärte rechtliche und finanzielle Fragen. In der Verantwortung stehen hier aber auch die Kantone, die den Ausbau sicherer Zugangswege und die humanitäre Aufnahme zusätzlicher Flüchtlinge mittragen müssen. Schon 2016 und seither wiederholt erklärte der Bundesrat indes, die Erarbeitung eines entsprechenden Gesetzesvorschlages zu prüfen und dabei auch die Erfahrungen anderer Staaten zu berücksichtigen. Doch passiert ist danach lange: gar nichts. Das Anliegen wurde auf die lange Bank geschoben – wieder und wieder.
Umfassende Auslegordnung
Ende 2020 hat sich das SEM dann endlich des wichtigen Themas angenommen. Knapp zwei Jahre später liegt jetzt mit dem soeben publizierten zweiteiligen Studienprojekt das Ergebnis vor. Dabei bietet im ersten Teil die externe Studie des Büros TC Team Consult einen guten Überblick über das aktuelle Spektrum an Programmen im Bereich komplementäre Zugangswege in diversen Ländern Europas, in Kanada, Australien und Neuseeland. Im zweiten Teil analysiert das SEM die Voraussetzungen in der Schweiz für die Einführung neuer sicherer Zugangswege und eine stärkere Beteiligung privater und lokaler Akteure.
Diese SEM-Analyse liefert nun erstmalig eine breite Auslegeordnung bereits bestehender Instrumente sowie Bausteine für den Auf- und Ausbau von ergänzenden Zugangswegen in die Schweiz. Das ist zu begrüssen, da damit eine sehr gute Grundlage gegeben ist für die weitere Diskussion und die Entscheidungsfindung. Zugleich erweckt die SEM-Analyse allerdings insgesamt der Eindruck, die Schweiz habe ihre Möglichkeiten bereits zufriedenstellend ausgeschöpft.
Verzerrtes Bild
Die SFH kommt diesbezüglich zu einer anderen Einschätzung. Sie hatte im Vorfeld Gelegenheit, zur SEM-Analyse Stellung zu nehmen und Kritikpunkte anzubringen. Aus ihrer Sicht zeichnet die Analyse namentlich bei den bereits existierenden Instrumenten humanitäre Visa und Familienzusammenführung ein zu positives Bild. Beides sind zwar in der Theorie tatsächlich sofort anwendbare Möglichkeiten, um Schutzsuchenden einen sicheren Weg in die Schweiz zu ebnen. Aber bislang eben nur in der Theorie: Die Praxis dagegen ist so restriktiv, dass beide Instrumente kaum Wirkung zugunsten Geflüchteter entfalten. So sank etwa die Anzahl vergebener humanitärer Visa von 228 im Jahr 2016 auf lediglich 94 Visa im Jahr 2021 – davon nur 37 für afghanische Staatsbürger*innen, trotz über 10’000 Anfragen von Afghan*innen. Insgesamt stieg die Quote verweigerter Visa seit Ende 2018 von 88 auf 94 Prozent im Jahr 2021. Eine Praxisanpassung ist hier dringend nötig, zumal der Bedarf angesichts der wachsenden Fluchtbewegungen gross ist.
Die SEM-Analyse liefert aber auch – insbesondere im Bereich des Community Sponsorship – keine konkreten Handlungsempfehlungen für die Schaffung neuer Zugangswege und es fehlt eine vertiefte Auseinandersetzung mit Gastfamilienprojekten. Dabei liegt hier ein grosses Potenzial brach: Auch die Bevölkerung will zunehmend einen Beitrag zur Aufnahme und Integration von Geflüchteten leisten, wie sich gerade im aktuellen Ukraine-Konflikt eindrücklich zeigt. Dieses wertvolle Potenzial sollte aus Sicht der SFH unbedingt verstärkt genutzt werden (können) – etwa mit Gastfamilienprojekten und Community Sponsorship, das es der Zivilgesellschaft ermöglicht, einen direkten Beitrag zu leisten.
Den Dialog konkretisieren
Kurzum: Unter dem Strich ist die SEM-Analyse das, was man angesichts der Vorgeschichte in etwa erwarten durfte – eine umfassende Bestandesaufnahme, die nichts verhindert, aber auch nichts wirklich vorantreibt. Ein Grund zur Enttäuschung ist das nicht. Denn das SEM kommt letztlich zum Schluss, dass ein stärkeres Engagement von zivilgesellschaftlichen Akteuren oder von Städten und Gemeinden angelehnt an Community Sponsorship Programme «grundsätzlich vorstellbar» ist. Zugleich dröselt die Analyse die rechtlichen Verantwortlichkeiten von Bund, Kantonen und Gemeinden auf, was für die Entwicklung von komplementären Programmen und deren Umsetzung mitunter matchentscheidend sein kann.
Hier gilt es nun anzuknüpfen und den Dialog mit allen Beteiligten weiterzuführen. Dabei können die Erfahrungswerte des aktuellen SFH-Gastfamilienprojektes zur privaten Unterbringung von Geflüchteten aus der Ukraine mit Blick auf die Entwicklung möglicher Pilotprojekte im Bereich Community Sponsorship genutzt werden. Voraussetzung dafür ist freilich ein Effort auf allen Seiten: Interessierte Kreise – also Städte, Gemeinden, zivilgesellschaftliche Organisationen, Kirchen, Sponsoren – sollten jetzt die Initiative ergreifen, ihre bisher eher allgemein gehaltenen Unterstützungsangebote konkretisieren und klar auf den Tisch legen, was für sie machbar und finanziell möglich ist. Gefordert sind aber insbesondere auch der Bund und die Kantone, die beide zu einem Pilotprojekt Hand bieten müssen, soll die Bereitschaft zur echten Prüfung neuer komplementärer Zugangswege kein leeres Versprechen bleiben.
Kein Hinderungsgrund
Dass dafür zuerst die rechtlichen Grundlagen geschaffen werden müssten, wie das SEM in seiner Analyse schreibt, ist auf Anhieb wenig überzeugend, zumal eine hinreichende Begründung dafür fehlt. Das Beispiel der Aufnahme von ukrainischen Flüchtlingen aus Moldawien durch die Allianz «Städte und Gemeinden für die Aufnahme von Flüchtlingen» im März 2022 zeigt vielmehr, dass es offensichtlich unter Umständen bereits heute ohne diesen Schritt möglich ist. Zudem betont die ländervergleichende Studie von TC Team Consult, dass bei den von ihr untersuchten Programmen in anderen europäischen Ländern mit vergleichbaren Systemen eine Anpassung der rechtlichen Rahmenbedingungen bei der Schaffung komplementärer Zugangswege «nicht erforderlich» war.
So oder so: Der diffuse Verweis auf Rechtsgrundlagen darf nicht länger als Vorwand dafür dienen, nichts zu tun – und er taugt schon gar nicht als Hinderungsgrund für mögliche Pilotprojekte. Zumal die Erfahrung zeigt, dass in der Schweizer Politik selbst in verzwickten Situationen gilt: Wo ein politischer Wille ist, findet sich ein rechtlicher Weg.