Asylverfahren an der EU-Aussengrenze: Europas Abkehr vom Schutzgedanken

Der Bundesrat setzt sich an den Schweizer Grenzen für Rechtstaatlichkeit, Grundrechte und Flüchtlingsschutz ein – Transitzonen lehnt er daher völlig zurecht ab. Geht es aber um die weit entfernten EU-Aussengrenzen, ändern dessen Haltung und Argumente. Dabei plant die EU, dort den Zugang zum Asylverfahren massiv einzuschränken, Geflüchtete zu entrechten und wie in Moria systematisch rechtswidrig in Lagern einzusperren. Die Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH) stellt sich mit ihren Partnern in ganz Europa gegen diese Pläne.

Peter Meier, Leiter Politik & Medien

Rund zweieinhalb Jahre ist es her, seit das griechische Elendslager Moria auf der Insel Lesbos vollständig niederbrannte. Tausende Geflüchtete hatten dort an der Aussengrenze der EU unter menschenunwürdigen Bedingungen über Monate und Jahre ausgeharrt: Männer, Frauen, Kinder – eng eingepfercht, ohne Zugang zu Ernährung, Hygiene, medizinischer Versorgung.

Doch erst als das chronisch überfüllte Insellager Anfang September 2020 in Flammen aufging, ging ein Aufschrei des Entsetzens durch Europa: Moria wurde kurzzeitig zur Chiffre des Versagens der europäischen Flüchtlingspolitik. Zum Symbol der Verrohung, die an Europas Aussengrenzen bis heute viele Formen annimmt: Kriminalisierung von Flucht und Geflüchteten, meterhohe Stacheldrahtzäune, Schallkanonen, brutale Push-Backs zu Land und zur See, unzählige Tote im Mittelmeer.

Ein Neuanfang, der keiner ist

«No more Morias», versprach Ylva Johansson wenige Tage nach dem verheerenden Brand dem EU-Parlament. Die EU-Innenkommissarin sprach damit aus, was eigentlich jeder Regierungschefin, jedem Politiker in Europa längst hätte klar sein müssen: So kann und darf es nicht weitergehen. Kurz darauf lancierte die EU-Kommission Ende September 2020 den neuen EU-Pakt zu Migration und Asyl – ein komplexes Bündel aus Vorschlägen und Gesetzesprojekten, vollmundig angekündigt als grundlegende Reform, als «Neuanfang» im Umgang Europas mit Migration und Asyl.

De facto ging die EU damit aber schon wieder zur Tagesordnung über. Denn der Pakt knüpft beinahe nahtlos an all das an, wofür Moria sinnbildlich stand: Abwehr, Abschreckung, Abschottung – der kleinste gemeinsame Nenner, auf den sich die Staaten punkto Gemeinsames Europäisches Asylsystem (GEAS) einigen können.

Eines der Kernelemente des EU-Paktes ist denn auch eine rigide Triage an den Aussengrenzen, um die Zahl der Schutzsuchenden, die in Europa noch Zugang zu einem fairen Asylverfahren erhalten sollen, auf ein Minimum zu reduzieren. Das erklärte Ziel ist nicht der dringend nötige Schutz von Geflüchteten, sondern vielmehr deren Abwehr und rasche Abschiebung – wenn möglich auch in Kooperation mit Drittstaaten.

Systematische Internierung

Als Instrument dafür sollen an den Rändern Europas Grenzverfahren mit vorgeschaltetem Screening unter faktischen Haftbedingungen eingeführt werden. Das Prinzip in Kürze: Geprüft wird dann direkt an der EU-Aussengrenze, welche Geflüchteten für ein reguläres Asylverfahren überhaupt noch in Frage kommen sollen. Als Ausschlusskriterien gelten dabei etwa eine im EU-Durchschnitt tiefe Anerkennungsquote je Herkunftsland oder der Fluchtweg: Wer aus oder via Drittstaaten geflüchtet ist, welche die EU nach eigenem Ermessen als «sicher» einstuft, dessen Asylgesuch gilt per se als unzulässig.

Mit anderen Worten: Geflüchteten kann mit den vorgesehenen Schnellverfahren an der EU-Aussengrenze die Einreise und das Recht auf den Zugang zu einem fairen Asylverfahren verweigert werden. Es drohen Verstösse gegen das völkerrechtlich verbriefte Non-Refoulement-Prinzip, systematische Internierung, Menschenrechtsverletzungen sowie der Abbau fundamentaler Schutz- und Verfahrensgarantien. Sorgfältige Sachverhaltsabklärung, individuelle Fluchtgründe und Einzelfallprüfung rücken in den Hintergrund. Es fehlt ein unabhängiger Rechtsschutz, der von Beginn an involviert ist und eine zwingende Bedingung für die Gewährleistung fairer Verfahren ist. Die SFH lehnt die geplanten Grenzverfahren daher ab und legt die damit verbundenen Probleme und Gefahren in einem neuen Positionspapier detailliert dar.

Bereits erprobt – und gescheitert

Die vorgesehene Einführung von Schnellverfahren an der EU-Aussengrenze findet in Europa zunehmend Unterstützung, wie sich in den nun angelaufenen Verhandlungen zum EU-Pakt in den europäischen Institutionen zeigt. Dabei agiert die Politik allerdings wider besseres Wissen: Denn der verfolgte Ansatz ist keineswegs neu. Er ist vielmehr in jüngster Vergangenheit bereits in der Praxis erprobt worden und gescheitert – Griechenland diente dabei als Versuchslabor.

Die dort im Kontext des EU-Türkei-Deals eingeführten Grenzverfahren in den abgelegenen und abgeschotteten Insellagern mit der vielsagenden Bezeichnung «Closed Controlled Access Centres» belegen nicht nur, dass diese weder fair noch funktional sind. Auch die Folgen sind hinlänglich bekannt: immer mehr Härte, immer weniger Flüchtlingsschutz – ein Scheiterhaufen der Rechtsstaatlichkeit, wie es die Journalistin Franziska Grillmeier einmal treffend nannte.

Daran wird sich auch künftig nichts ändern. Regierungen wie die italienische oder die griechische haben keinerlei Interesse daran, sich um Flüchtlingsschutz und korrekte Verfahren zu bemühen, solange es keine solidarische Verantwortungsteilung unter allen europäischen Staaten gibt. Das ist der grundlegende Konstruktionsfehler des europäischen Asylsystems, der mit dem EU-Pakt nicht behoben, sondern zementiert wird. Leidtragende sind die Schutzsuchenden, die mit den geplanten Asylgrenzverfahren weiter entrechtet werden.

Bedenkliche Unterstützung

Zuspruch erhalten die Schnellverfahren aber nicht nur innerhalb der EU, sondern auch aus der Schweiz. Sie ist als assoziiertes Schengen/Dublin-Mitglied vom EU-Pakt und der Weiterentwicklung des GEAS direkt betroffen und sitzt mit beratender Stimme mit am Verhandlungstisch der zuständigen europäischen Innenminister*innen.

So machten sich jüngst etwa Justizministerin Elisabeth Baume-Schneider wie die Staatssekretärin für Migration Christine Schraner-Burgener in Medienauftritten für die geplanten EU-Massnahmen stark. Das ist angesichts der Faktenlage aus menschen- und flüchtlingsrechtlicher Sicht bedenklich und befremdend zugleich.

Zumal der Bundesrat gleichzeitig gegenüber der innenpolitischen Forderung nach Asylverfahren in Transitzonen an der Schweizer Grenze klare Kante zeigt. Denn diese lehnt er zurecht kategorisch ab mit der Begründung, dass zum einen die Eingrenzung oder Internierung von Geflüchteten ohne konkrete Haftgründe und nur aufgrund ihrer Fluchtumstände einen unverhältnismässigen Eingriff in die persönliche Freiheit darstelle und weder mit der Bundesverfassung noch mit den völkerrechtlichen Vorgaben vereinbar sei. Und zum andern verletze es die Genfer Flüchtlingskonvention, wenn Asylsuchenden der Zugang zum Asylverfahren unabhängig ihrer individuellen Asylgründe verwehrt werde.

Kurskorrektur nötig

Dieselbe Richtschnur politischen Handelns muss aber auch an den weit entfernten EU-Aussengrenzen gelten. Die SFH fordert deshalb Bundesrat und Staatssekretariat für Migration zu einer Kurskorrektur auf. Die Schweiz sollte sichere Fluchtwege für Geflüchtete stärken und fördern, anstatt eine Entwicklung zu unterstützen, die das Flüchtlingsrecht untergräbt und zur weiteren Abschottung Europas gegenüber schutzsuchenden Menschen führt. Als Teil des europäischen Asylsystems sollte sie sich vielmehr im Rahmen ihrer Möglichkeiten verstärkt für die Wahrung von Menschenwürde, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten einsetzen.