Kinder in einem Bundesasylzentrum

Der Langzeit-Verbleib von Kindern in der Nothilfe verstösst gegen Kinderrechte

30. September 2024

Mehrere hundert Kinder von rechtskräftig abgewiesenen Asylsuchenden leben in der Schweiz mit Nothilfe. Erstmals wurden nun die Lebensbedingungen dieser Kinder und Jugendlichen genauer untersucht. Ihre Unterbringung, ihr finanzieller Unterhalt und ihre Betreuung verstossen nicht bloss gegen Kinder- und Grundrechte; die Studienergebnisse bestätigen auch die von der SFH schon lange geäusserten Bedenken gegen den zeitlich unbegrenzten Verbleib von Kindern in einem System, das eigentlich zur Überbrückung von kurzfristigen Notlagen geschaffen worden ist.

2020 waren 685 Minderjährige, 84% davon Kinder unter 12 Jahren, von der Nothilfe abhängig. 98% von ihnen waren zusammen mit ihren asylsuchenden Eltern rechtskräftig abgewiesen worden. Die meisten Kinder hielten sich seit über einem Jahr in der Schweiz auf, ein Fünftel lebte länger als vier Jahre hier. Hauptherkunftsländer waren Eritrea und Äthiopien.

Diese Fakten ermittelte eine Studie, welche von Forschenden am  Marie Meierhofer-Institut für das Kind (MMI) im Auftrag der Eidgenössischen Migrationskommission (EKM) durchgeführt hat. Um die Erkenntnisse und Empfehlungen der Forschenden in Bezug auf Kinder- und Grundrechte einordnen zu können, beauftragte die EKM zudem die juristische Fakultät der Universität Neuenburg mit der Durchführung eines Rechtsgutachtens.

Negative Auswirkungen auf physische und psychische Entwicklung

Die Forschenden am MMI zeigen auf, dass sich von der Nothilfe abhängige Kinder in einer besonders schwierigen Lage befinden. Meist im Zuge eines negativen Asylentscheids werden sie mit ihren Eltern an isolierten Orten untergebracht, ohne angemessene Betreuung, Möglichkeit zur sozialen Interaktion und bar jedweder Perspektive.

Über ein Drittel der betroffenen Kinder lebt demnach in Kollektiv-Unterkünften. Der Mangel an Spielräumen und altersgerechten Aktivitäten beeinträchtigt ihr Wohlbefinden, ihre Gesundheit und ihre Entwicklung. Die Beschulungsmöglichkeiten in den Zentren entsprechen keineswegs denjenigen an öffentlichen Schulen, weder im Hinblick auf die Lektionenzahl, noch was die Räumlichkeiten oder die Unterrichtsqualität anbelangt. Wie die Experten des MMI bemängeln, wirken sich die emotionalen Herausforderungen, die das Leben in Kollektivunterkünften an die Familien stellt, die fehlenden Rückzugsmöglichkeiten sowie die teilweise unhygienischen Bedingungen negativ auf die psychische und physische Gesundheit der Kinder aus.

Auch rechtliche Ungleichheit

Gemäss den Erkenntnissen der Expert*innen der juristischen Fakultät Neuenburg unterscheidet sich die Auszahlung der Nothilfe interkantonal erheblich hinsichtlich der Höhe, der Häufigkeit und der vorgenommenen Abzüge.Dabei würden die soziokulturellen und die entwicklungspsychologischen Bedürfnisse der Kinder verglichen mit Gleichaltrigen mit einem gesicherten Aufenthaltsstatus ungenügend berücksichtigt. Auch die zeitlich unbegrenzte Nothilfeabhängigkeit sei problematisch, wird im Rechtsgutachten festgestellt. Die Praxis sei derzeit weder mit der Kinderrechtskonvention noch mit dem schweizerischen Verfassungsrecht vereinbar, so das Fazit der Forschenden.

Das Kindswohl und die individuelle Situation müssen stärker berücksichtigt werden

Die SFH begrüsst die Veröffentlichung der Studie sowie des Rechtsgutachtens durch die EKM. Sie teilt die in beiden Untersuchungen aufgezeigten Bedenken und Verbeserungsvorschläge, namentlich den Vorschlag zur Entwicklung eines schweizweiten sozialpädagogischen Konzepts für alle Zentren, in denen Kinder und Jugendliche, darunter auch solche, die von der Nothilfe abhängig sind, untergebracht werden. Generell spricht sich die SFH gegen eine zeitlich unbegrenzte Nothilfe-Abhängigkeit aus. Sie fordert, dass die Regularisierungsmöglichkeiten für Kinder in der Nothilfe verbessert werden. Hierzu müsste die individuelle Lage eines jeden Kindes unabhängig von der Situation seiner Eltern berücksichtigt werden; dabei sollte nicht vergessen gehen, dass es sich bei Kindern um eigenständige Rechtssubjekte, nicht einfach nur um Anhängsel ihrer abgewiesenen Eltern handelt.