Unverrückbarer Grundpfeiler des Flüchtlingsschutzes

03. August 2021

Zu ihrem 70-jährigen Jubiläum hat der Bundesrat die nach wie vor grundlegende Bedeutung und Aktualität der Genfer Flüchtlingskonvention vom 28. Juli 1951 (GFK) bekräftigt. Das ist richtig und wichtig: Die GFK darf nicht in Frage gestellt werden. Handlungsbedarf besteht hingegen bei der Umsetzung – auch in der Schweiz. Dem Schutzgedanken der GFK ist stärker Rechnung zu tragen.

Seraina Nufer, Co-Abteilungsleiterin Protection SFH

70 Jahre nach Verabschiedung der GFK ist der internationale Flüchtlingsschutz unter Druck wie selten zuvor: Die ärmsten Länder der Welt tragen die grösste Verantwortung, während Europa sich trotz vergleichsweise tiefer Asylgesuchszahlen zunehmend abschottet anstatt sich auf einen ausreichenden, solidarischen Flüchtlingsschutz zu einigen. Mit einer Politik der Externalisierung und Pushbacks wird versucht, die GFK zu umgehen.

Auch in der Schweiz ist der Flüchtlingsschutz immer wieder Gegenstand kontroverser politischer Debatten. Dabei liegt der Fokus oft nicht auf denjenigen Menschen, die Schutz brauchen, sondern denjenigen, die als nicht schutzwürdig betrachtet werden. Mit diffusen, oft emotionalen und nicht durch klare Fakten belegten Argumenten werden in Medien und Politik Auseinandersetzungen um «unechte» Flüchtlinge und «Missbrauch» des Asylrechts geschürt – mit dem Ziel, die Flüchtlingsdefinition im Schweizer Recht einzuschränken. Anläufe dazu gibt es immer wieder. So wurde 2012 etwa Absatz 3 in Artikel 3 des Asylgesetzes eingefügt, wonach Personen, die wegen Wehrdienstverweigerung oder Desertion ernsthafte Nachteile befürchten, keine Flüchtlinge sind. 2014 wurde noch Absatz 4 hinzugefügt, wonach Personen keine Flüchtlinge sind, die sich auf ihr Verhalten nach der Flucht (beispielsweise exilpolitische Tätigkeiten) berufen. Beide Absätze enthalten jedoch den Vorbehalt der GFK. Das bedeutet: Auch bei den genannten Konstellationen muss eine Person als Flüchtling anerkannt werden, wenn sie die Flüchtlingsdefinition der GFK erfüllt. Demnach gilt als Flüchtling, wer im Herkunftsstaat wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Anschauungen ernsthaften Nachteilen ausgesetzt ist oder begründete Furcht hat, solchen Nachteilen ausgesetzt zu werden. Genauso klar und unbestritten ist umgekehrt, dass eine Person nicht als Flüchtling anerkannt wird, wenn sie nicht alle Elemente der Definition erfüllt – also etwa dann, wenn einer Person wegen Wehrdienstverweigerung eine legitime strafrechtliche Sanktion droht, aber keine Verfolgung. Dies galt freilich bereits vorher – beide Absätze sind denn auch toter Buchstabe geblieben.

Chancenloser Versuch, an der Konvention zu rütteln

In Sachen Einschränkungsversuche ging FDP-Ständerat Damian Müller 2018 noch einen Schritt weiter, indem er die GFK als nicht mehr zeitgemäss in Frage stellte und die Schweiz per Postulat gar aufforderte, «die internationale Gemeinschaft zu ermuntern, die Flüchtlingskonvention zu revidieren.» Eine Mehrheit des Parlaments unterstützte das. Der Bundesrat setzte daraufhin eine Begleitgruppe ein, in der auch die SFH vertreten war, und gab ein externes Gutachten in Auftrag. Basierend darauf kam der Bundesrat klar zum Schluss, dass die GFK weiterhin ein zentrales Instrument des internationalen Flüchtlingsschutzes sei und dass kein Anpassungsbedarf bestehe, da die Konvention genügend flexibel sei um auch den aktuellen Herausforderungen gerecht zu werden. Das klare Signal des Bundesrates ist zu begrüssen: Die GFK soll nicht in Frage gestellt werden.

Trotz diverser Einschränkungsversuche aufgrund von polemischen politischen Diskussionen ist die GFK auch für die Schweiz nach wie vor die massgebende, seit mittlerweile 70 Jahren von einem allgemeinen völkerrechtlichen Konsens getragene Grundlage zur Bestimmung, wer Flüchtling ist.

Umsetzung in der Schweiz verbessern: auch im Bürgerkrieg gibt es Flüchtlinge

Allerdings setzt die Schweizer Praxis die Flüchtlingsdefinition der GFK zu restriktiv um: Insbesondere im Kontext von Bürgerkriegen wie beispielsweise in Syrien oder Afghanistan erteilen die Behörden zu rasch statt Asyl nur eine vorläufige Aufnahme aufgrund der allgemeinen Situation. Aber auch in Bürgerkriegen kann es zu persönlicher Verfolgung kommen, so beispielsweise wenn die Bewohner*innen eines bestimmten Dorfes als Angehörige der Opposition betrachtet und als solche gezielt angegriffen werden. UNHCR geht denn auch in seinen Erwägungen zum internationalen Schutz von syrischen Asylsuchenden vom März 2021 davon aus, dass die grosse Mehrheit die Flüchtlingsdefinition erfüllt.

Starthilfe für neue Existenz

Die GFK sagt nicht nur, wer Flüchtling ist. Als zweites Ziel bezweckt sie, Flüchtlingen den Aufbau einer neuen Lebensgrundlage im Aufnahmestaat zu ermöglichen – darauf sind sie angewiesen, denn sie können nicht mehr in ihren Herkunftsstaat zurückkehren. Um Flüchtlingen diesen Neustart zu ermöglichen, müssen die Aufnahmestaaten die entsprechenden Bedingungen schaffen. Diese äussern sich in grundlegenden Rechten wie dem Recht auf Bildung, Erwerbstätigkeit, Freizügigkeit innerhalb des Aufnahmestaates, Zugang zur öffentlichen Fürsorge sowie der Ausstellung eines Reiseausweises.

Dieser zweite Aspekt der GFK steht in den öffentlichen Diskussionen in der Schweiz meist weniger im Vordergrund, ist aber ebenso wichtig. Mit Blick auf die Integration ist insbesondere die Schweizer Eigenart des Status der vorläufigen Aufnahme als Flüchtling anstelle von Asyl (beispielsweise bei subjektiven Nachfluchtgründen wie exilpolitischen Tätigkeiten) fragwürdig: Da diese Personen die Flüchtlingseigenschaft erfüllen, gelten für sie sämtliche Rechte der GFK, und sie können genau wie anerkannte Flüchtlinge mit Asyl dauerhaft nicht in ihr Herkunftsland zurückkehren.

Zwar werden im Schweizer Recht diesen Personen die Rechte der GFK weitgehend gewährt; der «Zwischenstatus» birgt in der Praxis jedoch immer wieder Unklarheiten und wird dem Schutzgedanken der GFK zu wenig gerecht. Auch die zunehmenden Verschärfungen des Ausländerrechts – etwa die immer leichtere Möglichkeit der Herabstufung des ausländerrechtlichen Status bei Sozialhilfeabhängigkeit sowie die Hürden beim Zugang zum Bürgerrecht – sind mit Blick auf den Integrationsgedanken der GFK für anerkannte Flüchtlinge problematisch.

Es braucht ein Schweizer Engagement für Schutz und Solidarität

Als Depositarstaat der GFK, der sich gerne auf seine humanitäre Tradition beruft, steht die Schweiz besonders in der Pflicht, den Schutzgedanken der Konvention umzusetzen. Sie sollte als Beispiel innerhalb Europas vorangehen und sich für eine Stärkung des Schutzes und eine solidarische Verantwortung für Flüchtlinge einsetzen.

Damit verfolgte Menschen den Schutz erhalten, den sie brauchen, ist und bleibt die GFK auch heute und in Zukunft der ungebrochen wichtige Grundpfeiler des internationalen Flüchtlingsschutzes.