«Ich hätte nicht erwartet, dass Einzelpersonen so viel Ermessensspielraum haben»

10. Oktober 2023

Cihan Dilber arbeitete in seinem Herkunftsland, der Türkei, als Staatsanwalt, seine Frau als Richterin – bis Erdoğans repressives Regime auch in ihr Leben eingreift. Nach der Flucht lebt die Familie nun seit vier Jahren in der Schweiz und baut sich eine neue Existenz auf. Wie fühlt sich das an?

Interview und Fotografie: Barbara Graf Mousa, Redaktorin SFH

Cihan Dilber, möchten Sie uns einen kurzen Einblick geben in Ihr Leben in der Schweiz?

Cihan Dilber: «Ich lebe seit vier Jahren mit meiner Frau und meinem Sohn in der Schweiz. Die ersten zwei Monate wohnten wir im Bundesasylzentrum Boudry, in Neuchâtel. Bis zum Asylentscheid gingen wir davon aus, dass wir in die französischsprachige Region geschickt würden.Wir wurden jedoch einem Kanton in der Deutschschweiz zugeteilt und wohnten die ersten dreieinhalb Monate in einem möblierten Haus in einem sehr charmanten kleinen Dorf.»

Welches Aufenthaltsrecht erhielten Sie?

«Wir bekamen von Beginn weg eine Aufenthaltsgenehmigung B. Seit September 2019 leben wir in der uns zugeteilten Gemeinde. Unser Sohn wurde in die 1. Klasse eingeschult, meine Frau und ich fingen mit dem Deutschkurs Niveau A1-Kurs an, so dass für uns alle ein neues Abenteuer begann.»

Sie haben in Ankara Recht studiert und viele Jahre als Staatsanwalt in einer hohen Position gearbeitet. Müssen Sie in der Schweiz beruflich nochmals von vorn beginnen?

«Am Anfang war es mein Ziel, in einem sozialen Bereich oder im Asylwesen zu studieren und zu arbeiten. Aber das Sozialamt unserer Gemeinde hat mich dabei nicht unterstützt. Selbst der einfachste Deutschkurs wurde nur bis zum Niveau B1 gefördert. Für die Finanzierung meines Deutschkurses Niveau B2 suchte ich schliesslich selbst Unterstützung bei Stiftungen und Vereinen. Das hat funktioniert, jedoch habe ich damit wertvolle Zeit verloren – ein Jahr insgesamt. Natürlich ist ein gutes Sprachniveau wichtig, um im sozialen Bereich zu arbeiten. Als dann meine Ausbildungsvorschläge ebenfalls abgelehnt wurden, war ich es leid, noch mehr Erklärungen abzugeben und schriftliche Anträge zu stellen. Auf diese Weise verlor ich meine Motivation.»

Was haben Sie dann gemacht?

«Als mir klar wurde, dass ich im sozialen Bereich keine Ausbildung auf dem von mir gewünschten Niveau machen kann, sattelte ich in den IT-Bereich um. Ich hatte zuvor bereits eine Teilzeitbeschäftigung als Document Scanning Operator beim Bürgerspital Basel gefunden und machte das weiter. Zum anderen suchte ich wieder mit meinen eigenen Mitteln einen Online-Kurs und bildete mich zum QA Software Tester aus. Dafür musste ich mir sehr gute IT-Kenntnisse erarbeiten. Als QA Software Tester prüfe ich, ob eine neue Software tauglich ist. Dafür muss ich selbst einen Plan erstellen und geeignete Testbeispiele überlegen, dies dann programmieren und durchführen.»

Dann sind Sie aktuell auf Stellensuche als Software Tester?

«Genau. Da dies jedoch ein neues Arbeitsfeld für mich ist, habe ich wirklich zu kämpfen.»

Helfen Ihnen dabei die Erfahrungen als Document Scanning Operator?

«Nun, mein Vertrag beim Bürgerspital läuft noch bis Ende Oktober 2023. Leider hat dieser Job nicht viel zu meinen Deutschkenntnissen beigetragen, weil dieser Bereich nicht viel Kommunikation erfordert. Ich habe jedoch den Schweizer Arbeitsmarkt und das Arbeitsumfeld kennengelernt und umgekehrt hat auch der Arbeitgeber mich kennengelernt. Das ist mir wichtig. Denn ich habe von allen, sowohl von geflüchteten Kollegen wie auch von Schweizerinnen und Schweizern gehört, dass es sehr wichtig ist, überhaupt einen ersten Job zu bekommen. Es geht dabei um die Arbeitsbestätigung oder das Arbeitszeugnis. Diese sind für den nächsten Job sehr wertvoll.»

Haben Sie sich nach diesen Erfahrungen andere Ziele gesetzt?

«Ich möchte Vollzeit arbeiten und ohne Sozialhilfe auf eigenen Füssen stehen. Natürlich würde ich gerne in einem Bereich arbeiten, in welchem mein Wissen und meine Erfahrungen mit Migration gefragt sind. Auf diese Weise, denke ich, könnte ich der Schweiz und der Bevölkerung nützlicher sein.»

Was ist Ihr Eindruck von der Schweiz? Was gefällt Ihnen, was ist eher schwierig?

«Mein erster Eindruck von der Schweiz ist sehr positiv. Trotz all der Schwierigkeiten und Traumata, die wir als Familie erlebt haben, bin ich glücklich hier. Ich fühle mich frei und vor allem sicher mit meiner Familie. Ich habe festgestellt, dass es in jedem Land gute und hilfsbereite Menschen gibt. Das Wichtigste ist, den Weg weiterzugehen, ohne aufzugeben und sich von den negativen Erfahrungen und Beispielen nicht unterkriegen zu lassen. Ich mag zudem die Ruhe, Ordnung, Sauberkeit und Pünktlichkeit in der Schweiz. Was für mich schwierig ist, ist natürlich die schweizerdeutsche Sprache.»

In der Schweiz sind die Kantone für den sozialen und beruflichen Integrationsprozess der Geflüchteten zuständig. Sie erhalten vom Bund für jede geflüchtete Person eine Pauschale von CHF 18´000 im Jahr. Die Kantone und Gemeinden unterscheiden sich jedoch darin, wie sie diese Unterstützungen leisten. Welche Erfahrungen haben Sie damit gemacht?

«Die Tatsache, dass sich alles ändert, je nachdem, mit wem man es zu tun hat, mit welcher Gemeinde oder welchem Kanton, hat mich sehr erstaunt. Ich wünschte, es gäbe einen Mindeststandard. Ehrlich gesagt, hätte ich nicht erwartet, dass Einzelpersonen so viel Ermessensspielraum haben. Sie können Entscheide fällen, die den eigenen Integrationsprozess komplett ändern, verlängern oder auch verkürzen können.». Er schmunzelt und fügt bei: «Aber wenn man als Betroffener geduldig ist und selbst weitersucht, kann man in diesem Land bestimmt eine Person oder eine Stiftung finden, die hilft. Auch das ist etwas Wertvolles und Gutes in diesem Land, finde ich.»

Machen andere Geflüchtete in ihrem Integrationsprozess ähnliche Erfahrungen?

«Ja, der unterschiedliche Integrationsprozess ist auch immer wieder ein wichtiges Thema, wenn man sich unter Geflüchteten trifft. Und zum Beispiel auch im Flüchtlingsparlament, bei dem ich seit 2021 mitmache. Die unterschiedlichen Praktiken sorgen für Unruhe unter den Geflüchteten. Die betroffenen Menschen wollen dorthin gehen, wo es positive Beispiele gibt. Sie beantragen dann einen Gemeinde- oder Kantonswechsel; das geht aber nicht so einfach und dauert.»

Sie arbeiten seit ein paar Monaten auch im Bildungsteam der Schweizerischen Flüchtlingshilfe (SFH) mit. Was ist Ihre Aufgabe?

«Wenn die SFH einen öffentlichen Anlass oder einen Kurs über die Türkei macht, halte ich einen Vortrag. Ich erzähle über mein Leben vor, während und nach der Flucht, über die Lage in der Türkei und was diese Lage für die Menschen bedeutet. Bei Kursen oder Weiterbildungen für Erwachsene und junge Menschen berichte ich über meine Flucht und über meine Erfahrungen als Asylsuchender und anerkannter Flüchtling in der Schweiz. Ich mag es sehr, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen und mit neuen Menschen in Kontakt zu kommen. Es ist ein Vergnügen, bei jedem Treffen etwas Neues zu lernen und einen kleinen Beitrag zum besseren gegenseitigen Verständnis zu leisten.»

Was ist Ihnen persönlich im Leben wichtig?

«Wichtig ist für mich, dass sich das Gute vervielfacht und gute Menschen ihren Kampf gemeinsam fortsetzen. Ich möchte, dass alle Menschen als gleichwertig angesehen werden und die gleichen Rechte haben, unabhängig von Religion, Rasse, Herkunft, Nationalität oder Hautfarbe. Wenn auch nur für einen einzigen Menschen etwas Nützliches und Schönes getan wird, denke ich, dass all diese Bemühungen es wert sind. Wir sollten unseren Kampf nicht ergebnisorientiert, sondern prozessorientiert fortsetzen. In der heutigen dunklen Welt ist es oft sehr wichtig, auch nur für einen Menschen eine Hoffnung zu sein.»

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