«Die Mehrheit der Geflüchteten in Europa ist schutzberechtigt»

14. Juli 2023

Josephine Liebl leitet die Abteilung Interessensvertretung beim Europäischen Flüchtlingsrat (European Council on Refugees and Exile ECRE). Als Head of Advocacy ECRE verfolgt sie mit ihrem Team die aktuellen Verhandlungen des EU-Paktes zu Migration und Asyl zwischen dem Rat der EU und dem Europa-Parlament genau. Die geplanten Verschärfungen sind besorgniserregend. Die Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH) hat Josephine Liebl in Bern zu einem Gespräch getroffen.

Interview und Fotografie: Barbara Graf Mousa, Redaktorin Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH)

Josephine Liebl, welche Haltung nimmt ECRE zum aktuellen Stand des EU-Pakts zu Migration und Asyl ein?

«ECREs Position zum Pakt ist klar: Wir sagen „Lieber keine Reform als diese Reform“! Viele Vorschläge basieren auf der Logik, dass die Menschen gar keinen Schutz benötigen. Dabei erhält die Mehrheit der Geflüchteten in Europa in erster oder zweiter Instanz Schutz. Wir kritisieren die permanenten Verschärfungen der Asylverfahren, deren Auslagerung an die Aussengrenzen, die zu noch mehr Menschenrechtsverletzungen führen wird und das Recht auf Asyl massiv einschränkt. Mittlerweile sind die im Pakt festgehaltenen Regeln derart komplex, dass wir deren Umsetzbarkeit stark anzweifeln.»

Haben Sie ein Beispiel dazu?

«Für die vorgesehenen beschleunigten Asylverfahren an den EU-Aussengrenzen müssen viele Mitgliedstaaten beispielsweise ihre gesamte Asylinfrastruktur dorthin verschieben; ob und bis wann das logistisch möglich ist, bleibt fraglich. Auch sind durch die politischen Verhandlungen im Rat die schon komplizierten Vorschäge noch komplexer geworden, zum Beispiel wurde eine Mindestzahl der Personen, deren Asylverfahren an den Aussengrenzen behandelt werden muss, eingeführt. Viele Vorschläge sind auch, verglichen mit dem, was wir in der Praxis sehen, unrealistisch. In sogenannten Screening-Verfahren soll die Schutzbedürftigkeit aller Gesuchstellenden in nur fünf Tagen abgeklärt und kategorisiert werden; wir bezweifeln, dass die Mitgliedstaaten genügend Fachleute mit geschultem Knowhow an ihre Aussengrenzen bringen werden. Abklärungen zu individuellen Fluchtgründen und sorgfältige Einzelfallprüfungen sind so kaum noch möglich. Verletzungen des Non-Refoulement-Gebots, der Ausweisung von Menschen in ein Land, wo sie gefährdet sind, werden zunehmen.»

Welche Interessen vertritt ECRE prioritär für Geflüchtete bei den aktuellen politischen Konstellationen in der Europäischen Union? Was steht im Vordergrund?

«Wir streben schlicht ein funktionierendes Asylsystem in Europa an und versuchen, die Politik und die Praxis der EU entsprechend zu beeinflussen. Das europäische Handeln hat auch Auswirkungen auf die Rechte von Flüchtlingen ausserhalb Europas. Ihre Rechte sollen gefördert und Zwangsvertreibungen verringert werden. Wir bekämpfen alle Massnahmen, die den Zugang zu Asyl erschweren. Wir erinnern dabei an die problemlose Aufnahme der zahlreichen ukrainischen Geflüchteten, an die Chancen in Zeiten des Fachkräftemangels und der Überalterung vieler europäischer Staaten. Der asylpolitische Fokus in den EU-Gremien auf Abwehr und Rückkehr ist unserer Ansicht nach unverhältnismässig.»

Was sind die Gründe für die aktuellen asylpolitischen Tendenzen in Europa?

«Es ist ein Indiz dafür, wie erfolgreich die extreme Rechte das Thema instrumentalisiert hat, und wie die Parteien im Mitte-Rechts-Bereich dabei mitgegangen sind. Migration wird von diesen Gruppierungen gleichgesetzt mit Krise und das hat sich leider in den Köpfen festgesetzt. Es ist bizarr, dass Europa gleichzeitig aus Drittstaaten Fachkräfte holt, anstatt Geflüchtete und Zugewanderte im Land auszubilden. Viele Hochqualifizierte erachten Europa nicht unbedingt als so attraktiv; ihre Sichtweise deckt sich nicht mit der Selbsteinschätzung einiger europäischer Staaten.»

Anfangs Juni 2023 haben die Innenminister*innen der EU-Mitgliedstaaten den Vorschlägen für eine Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystem (GEAS) zugestimmt. Ende Juni sind mit der «Verordnung für Ausnahmen im Falle von Krisen, Instrumentalisierung und höherer Gewalt» weitere Verschärfungen dazu gekommen, welche die Menschenrechte und das Völkerrecht verletzen. Wie reagiert ECRE auf diese jüngsten Entwicklungen?

«Die schlimmsten Vorschläge gilt es zu blockieren, wie diese Verordnung für Ausnahmen zum Beispiel. Dazu gibt es inzwischen auch ein von der SFH mitunterzeichnetes Protestschreiben und weitere Aktivitäten verschiedener europäischer Organisationen aus dem Bereich Migration und Asyl. Bei den anderen Verordnungen betreiben wir Schadensbegrenzung in den Trilog Verhandlungen, wo es um die Bereinigung der unterschiedlichen Positionen geht. Das betrifft die Asylverfahren, das Asyl- und Migrationsmanagement und die Vorabprüfung von Drittstaatsangehörigen an Aussengrenzen.»

Wie muss man sich das konkret vorstellen?

«Konkret sind im Juni 2024 Wahlen des Europa Parlaments und darauf folgend wird auch eine neue EU-Kommission eingesetzt. Durch Einflussnahme auf die Programme der politischen Parteien lobbyieren wir für die Anliegen der Geflüchteten. Wir schauen uns die parteipolitischen Ziele und Prioritäten für die nächste Legislaturperiode an und motivieren mit Sensibilisierungsarbeit die Menschen zur Wahl. Nach den Wahlen gilt es dann im Sommer 2024 Fragen für Anhörungen der neugewählten Kommissare vorzubereiten.»

Inwiefern ist die EU-Asylpolitik auch für die Schweiz als Nicht-EU-Mitglied, aber eines der vier assoziierten Staaten des Dublin-Raums, relevant?

«Die Schweiz ist mit der EU-Asylpolitik beispielsweise verbunden als Mitglied im Frontex Aufsichtsrat, in der Beobachterrolle im Aufsichtsrat der EU Asyl Agentur (EUAA) und im European Migration Netzwerk. Als einer der vier assoziierten Staaten des Dublin-Raums trägt sie die europäische Asylpolitik und deren Auswirkungen mit. Was also innerhalb der Schweiz asylpolitisch geschieht, kann nicht unabhängig von den EU-Aussengrenzen gedacht werden. Ebenso übernimmt die Schweiz wie die anderen Dublin-Staaten Mitverantwortung für das, was an den Aussengrenzen Europas geschieht.»

Lesen Sie dazu das Positionspapier der Schweizerischen Flüchtlingshilfe «Asylverfahren an der EU-Aussengrenze: Der Schutz von Geflüchteten muss im Zentrum stehen» vom 23. Mai 2023.

Der Europäische Flüchtlingsrat

Der European Council on Refugees and Exile ECRE ist eine Allianz von 117 zivilgesellschaftlichen Organisation in 40 europäischen Ländern. Im Sekretariat in Brüssel arbeiten 16 Angestellte in drei Tätigkeitsfeldern:

  • Juristische Unterstützung und Prozessführung (The European Legal Network on Asylum ELENA und The European Database of Asylum EDAL)
  • Advocacy (The Asylum Information Database AIDA)
  • Kommunikation (Weekly Bulletin, ein wöchentlicher Newsletter zur Asylsituation in den verschiedenen europäischen Ländern)

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