Aus dem Innenleben einer Gastfamilie im Kanton Glarus

08. Juni 2022

Der Kanton Glarus arbeitet für das Gastfamilienprojekt direkt mit der Schweizerischen Flüchtlingshilfe (SFH) und einem von ihr vermittelten Hilfswerk, der Caritas St. Gallen-Appenzell, zusammen. Dolores Waser Balmer, Leiterin der Fachstelle Diakonie bei der Caritas St. Gallen-Appenzell, steht dem jungen Gastgeberpaar Sheila Schmid und Dominik Hauser und ihren ukrainischen Gästen Liudmyla und Sohn Denys* mit Rat und Tat zur Seite. Im folgenden Interview gewähren alle aus ihrer Perspektive einen Einblick in das Innenleben einer ungeplanten und befristeten Wohngemeinschaft.

Was haben Sheila Schmid und Dominik Hauser dazu motiviert, bei sich ukrainische Geflüchtete aufzunehmen?

Dominik Hauser: «Es hat uns beide sehr erschüttert, als der Krieg in der Ukraine völlig unvorhergesehen losging. Als wir im Internet die Möglichkeit entdeckten, sich als Gastfamilie anzubieten, haben wir uns angemeldet. Wir sind beide sozial eingestellt, haben eine grosse Wohnung mit zwei Badezimmern, also eigentlich gute Voraussetzungen für ein allfälliges Zusammenwohnen.»

Warum wollten Liudmyla und Denys bei einer Gastfamilie sein?

Liudmyla: «Als wir am 19. März mit dem Zug von Hannover in Zürich eintrafen, war alles noch ziemlich chaotisch. Wir sind wirklich sehr dankbar für alles, was die Schweiz für uns tut. Aber die Unterkünfte in grossen Räumen mit über zwanzig Personen waren für uns ein Schock. Einmal übernachteten wir mit fünfzig Landsleuten im Hotel Mövenpick in Regensdorf, einmal in Steckborn in einem Gebäude das einem Bunker glich und uns wie ein Gefängnis vorkam; es war schwierig. Als wir uns im Bundesasylzentrum Altstätten am 5. April registrieren konnten, durften wir die Art der weiteren Unterkunft wählen und für uns war klar: wir möchten gerne bei einer Familie wohnen.»

Wie läuft das Zusammenleben aus Sicht der Gäste?

«Es ist toll hier, mir gefällt es sehr», schwämt Denys. «Sheila lernt mit mir intensiv Deutsch, Dominik hat mich beim Fussballclub angemeldet. Ich besuche seit ein paar Wochen die öffentliche Schule und kann hier meinen Schulabschluss machen. Wir unternehmen viel draussen, machen Ausflüge mit dem Velo oder zu Fuss. So lernen wir die Schweiz kennen.»

Liudmyla: «Obwohl wir im Moment von Tag zu Tag ohne Zukunftspläne leben müssen, bin ich dankbar für die Sicherheit, die Ruhe und Entspannung hier bei Sheila und Dominik. Ich bin eine realistische und pragmatische Person, das kommt mir jetzt entgegen. Manchmal fällt es mir aber schwer Hilfe anzunehmen, das bin ich nicht gewohnt und es berührt meinen Stolz.»

Und aus Sicht der Gastgebenden?

«Am Anfang lief es sehr gut», berichtet Sheila Schmid. «In letzter Zeit haben wir aber auch gemerkt, dass die Situation für Liudmyla sehr bedrückend ist. Wir haben das Gefühl, jetzt ist sie wirklich angekommen und die Realität holt sie ein. Sicher spielt dabei auch eine Rolle, dass die Firma, wo sie als Buchhalterin gearbeitet hat, seit dem 4. Mai definitiv geschlossen hat. Wir haben für sie jetzt psychologische Unterstützung beantragt und würden sie gerne mehr mit den ukrainischen Landsleuten vernetzen können. Nach wie vor aber funktioniert das Zusammenleben super!»

Hat die Gastfamilie Unterstützung durch die Betreuungsorganisation benötigt?

Dolores Waser Balmer: «Die psychologische Hilfe für Liudmyla ist ein gutes Beispiel dafür. Wir mussten lernen, uns gut abzusprechen. Es ist für alle Involvierten ein Lernprozess. Den Gastfamilien gibt es Sicherheit schon nur zu wissen, dass man uns sieben Tage in der Woche erreicht.»

Sheila Schmid bestätigt: «Auch wenn gerade alles gut funktioniert, sind wir froh, dass wir uns Rat und Hilfe holen können. Mit Dolores haben wir eine Ansprechperson vor Ort. Diese Art von Unterstützung schätzen wir enorm.»

Dolores Waser Balmer: «Jede Gastfamilien-Konstellation ist sehr unterschiedlich. Dominik arbeitet als Forstingenieur bei der Gemeinde und kennt die Behördenabläufe gut. Sheila ist als Primarlehrerin ein pädagogischer Profi und erkennt dank ihrer Feinfühligkeit rasch die Gemütslage ihrer Gäste, aber auch die eigenen Grenzen – ein Glückfall. Im Kanton Glarus begleiten wir derzeit 27 Gastfamilien. Die Vorteile in diesem kleinen Kanton sind die Nähe und die gute Erreichbarkeit der involvierten Behörden; man kennt sich, die Abläufe funktionieren administrativ rasch und oft sehr pragmatisch.»

Wie geht es jetzt weiter für die Gastfamilie?

Sheila Schmid: «Am Anfang hiess es, dass man Gastfamilien für eine Aufnahme von drei Monaten sucht. Darauf haben wir uns innerlich auch eingestellt. Eine solche Wohngemeinschaft ist intensiv und auch intim. Das tägliche Zusammenleben bleibt trotz allem Positiven eine permanente Herausforderung. Unsere Gäste sind Kriegsgeflüchtete und leiden oft darunter. Wir als Gastgeber können dagegen wenig tun, wir müssen es aushalten und sollten trotzdem auch unsere eigenen Lebenspläne weiterverfolgen.»

Dominik Hauser: «Ein sanfter Übergang in eine Eigenständigkeit, zum Beispiel dass Liudmyla und Denys eine Wohnung finden, würden wir begrüssen. Selbstverständlich können Liudmyla und Denys immer auf unsere Unterstützung und unser Netzwerk zählen, das ist klar und das macht uns auch Freude. Die Hilfsbereitschaft und die Solidarität sind in unserer Gemeinde nach wie vor gross, davon profieren auch die Gastfamilien.»

… und für Liudmyla und Denys?

Liudmyla: «Es ist mir bewusst, dass wir nicht dauerhaft bei Sheila und Dominik bleiben können, wir bleiben flexibel. Auch wenn wir umziehen müssen, so geht das Leben weiter. Wichtig ist für uns der sichere Schutz hier in Europa, und für Denys, dass er eine gute Ausbildung machen kann.»

Denys: «Ich bin froh, bin ich hier in der Schweiz, dem Traumland vieler Leute aus den ehemaligen Ostblockländern. In der Schule in Kiew lernten wir, dass die Schweiz reich sei, weil sie eine starke Mittelschicht habe und die Einkommen besser verteilt seien als in der Ukraine.»

Liudmyla: «In der Ukraine versucht man mit harter Arbeit, manchmal mit zwei, drei Jobs gleichzeitig, zumindest die Existenz zu sichern. Die Korruption und die Vetternwirtschaft schaden dem Mittelstand sehr. In der Schweiz kann man mit Lohnarbeit auch das Leben geniessen, das ist mein Eindruck. Ich hoffe, dass ich bald Arbeit finde und wir selbständig leben können, bis wir wieder zurückkehren können.»

Denys: «Ich möchte gerne Pilot werden, das war schon immer mein Traumberuf. Als wir im Hotel Mövenpick waren, sah ich dort auch Piloten in schönen Uniformen, vielleicht ein gutes Zeichen? Ich würde aber nur zivile Flüge machen.»

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