Die grosse Sorge um die Familienmitglieder

14. Oktober 2021

Afghaninnen und Afghanen in der Schweiz sorgen sich um ihre Angehörigen. Viele sind verzweifelt, weil sie von hier aus fĂŒr sie kaum etwas tun können. Der junge Metallbaupraktiker Fahim erzĂ€hlt, wie sich seit dem Machtwechsel in Afghanistan sein Alltag hier in der Schweiz verĂ€ndert hat.

Ohne Smartphone kein Kontakt. Es ist das wichtigste GerĂ€t im Leben der meisten Afghaninnen und Afghanen ausserhalb ihrer Heimat. Gleichzeitig sei dieses GerĂ€t ein Albtraum, seufzt der 21jĂ€hrige Fahim*. «Ich weiss oft nicht mehr, wo mir der Kopf steht. Wenn ich nicht arbeite, dann hĂ€nge ich am Telefon oder an den Messenger-Diensten. Seit zwei Wochen weiss ich nicht mehr, wo meine Eltern und meine kleine Schwester sind.» Sein minderjĂ€hriger Bruder versteckt sich aktuell im Iran, nachdem die Familie vor zwei Wochen getrennt wurde, als sie mit einer Gruppe versuchte, die Grenze zum Iran zu ĂŒberschreiten. Die iranischen Grenzzöllner hĂ€tten auf die FlĂŒchtenden geschossen, berichtet Fahim. In der Panik seien alle weggerannt oder hĂ€tten sich irgendwo versteckt. Der kleine Bruder sei schliesslich alleine im pakistanischen Grenzland herumgeirrt. «Als er wieder WiFi-Empfang hatte, rief er mich an», erzĂ€hlt Fahim. «Er weinte und hatte grosse Angst. Ich konnte organisieren, dass ihn ein afghanischer Freund aus Teheran zu sich holte. Dort ist er fĂŒr einen Moment sicher, aber er traut sich nicht auf die Strasse. Ohne Ausweispapiere schaffen ihn die iranischen Behörden entweder wieder zurĂŒck nach Afghanistan oder ziehen in ein fĂŒr den Syrienkrieg.» Fahim hat sich beim Schweizerischen Roten Kreuz (SRK) und bei der Schweizerischen FlĂŒchtlingshilfe (SFH) ĂŒber die Möglichkeiten fĂŒr ein HumanitĂ€res Visum informiert und steht nun direkt in Kontakt mit der Schweizer Vertretung in Teheran. Wird der Bruder nach Afghanistan zurĂŒckgeschickt, dann sei sein Leben massiv in Gefahr, ist Fahim ĂŒberzeugt: «Mein Vater hat mich und meinen Bruder minderjĂ€hrig auf die Flucht geschickt, weil uns sonst die Taliban zwangsrekrutiert hĂ€tten. Seither wurden meine Eltern immer wieder bedroht, seit dem Machtwechsel sind sie untergetaucht. Sie werden von den Taliban als unglĂ€ubige VerrĂ€ter eingestuft, die zwei Söhne in den Westen geschickt haben.»

Mehr als Ablenkung

Auf Fahims jungen Schultern lastet jetzt viel Verantwortung. «Ich möchte meine Familie retten, das ist im Moment das Wichtigste. Trotzdem ist meine Zukunft hier in meiner neuen Heimat Schweiz», sagt er bestimmt. «Ich darf und will meine Arbeit und meine ZukunftsplĂ€ne nicht vernachlĂ€ssigen». Von Montag bis Freitag montiert er TĂŒren und Fenster, fĂ€hrt jeden Tag oft sehr frĂŒh zur Baustelle, pĂŒnktlich und zuverlĂ€ssig. Dann bleibt das Handy abgestellt bis zu den kurzen Pausen wĂ€hrend der Arbeit. Nur nach Feierabend und an den Wochenenden bleibt Zeit, um den quĂ€lenden Fragen nachzugehen: Wo sind meine Angehörigen? Wie geht es ihnen? Welche Chance habe ich, meine Eltern und Geschwister in die sichere Schweiz zu holen?

2015 kam Fahim minderjĂ€hrig zusammen mit seinem Bruder in die Schweiz. Er, der in seinem Heimatdorf nur ein paar Jahre die Koranschule besucht hatte, erreichte bereits nach dem zweiten berufsvorbereitenden Schuljahr das Deutschniveau B1. Er bestand auch gleich die PrĂŒfung fĂŒr die Lehre an einer kantonalen technischen Fachschule. Diesen Juni war die Freude und der Stolz auch seines Lehrmeisters gross, als er seine zweijĂ€hrige berufliche Grundbildung mit eidgenössischem Berufsattest (EBA) als Metallbaupraktiker mit Bravour bestand. Seit Juli hat er eine Vollzeitstelle mit unbefristetem Arbeitsvertrag und hat sich von der Asylsozialhilfe abgemeldet. «Ich bin dankbar fĂŒr den tollen Job, es ist mehr als Ablenkung. Mit gefĂ€llt der Metallbau sehr, die vielseitigen Arbeiten, das Schweissen, die KollegialitĂ€t unter den Handwerkern.» Eine Festanstellung, obwohl er nur ĂŒber eine vorlĂ€ufige Aufnahme (F-Ausweis, AuslĂ€nder) verfĂŒgt, das sei eine grosse Chance, die er nicht aufs Spiel setzen möchte. Gerade hat er ein HĂ€rtefallgesuch fĂŒr eine B-Bewilligung eingereicht: «FĂŒr mich ist es in der aktuellen Situation sehr wichtig, dass auch mein Aufenthaltsstatus in der Schweiz langfristig geregelt und gesichert ist, damit ich hier weiter ein gutes Leben aufbauen und ich mich noch besser integrieren kann», schreibt er im Gesuch.

7800 Anfragen, drei positive EinschÀtzungen

7'800 Anfragen von besorgten Afghaninnen und Afghanen sind zur VorprĂŒfung fĂŒr ein Gesuch fĂŒr ein humanitĂ€res Visum beim Staatssekretariat fĂŒr Migration (SEM) eingegangen, berichteten die Medien im Oktober. Das SEM prĂŒft nur, ob eine Anfrage eine Chance hat. Nur wenn die strengen Kriterien fĂŒr ein humanitĂ€res Visum oder einen Familiennachzug erfĂŒllt sind, macht ein entsprechendes Gesuch an eine Schweizer Vertretung in einem Nachbarstaat Sinn. Die SFH begrĂŒsst diese Möglichkeit, weil die Flucht zu einer Schweizer Auslandvertretung in einem Nachbarstaat fĂŒr gefĂ€hrdete Personen in Afghanistan sehr riskant ist. Doch die Auswertung der Anfragen fĂŒhrt zu ernĂŒchternden Ergebnissen. Nur drei Anfragen wurden bisher mit einer positiven EinschĂ€tzung beantwortet: Einmal positiv im Falle eines humanitĂ€ren Visums und zweimal positiv fĂŒr einen Familiennachzug. Warum eine so tiefe Quote? Die Bedingungen fĂŒr ein humanitĂ€res Visum sind nach wie vor sehr streng: Neben einem engen und aktuellen Bezug zur Schweiz muss die betroffene Person wegen der Lage in Afghanistan individuell und unmittelbar lebensbedrohlich gefĂ€hrdet sein. Allein die Zuordnung zu einer möglicherweise gefĂ€hrdeten Gruppe wie ehemalige Regierungsbeamte, Minderheiten wie die Hazara, Journalistinnen, Aktivisten oder RĂŒckkehrende aus dem Westen reicht aus Sicht einer Schweizer Auslandvertretung nicht aus. Dazu kommt, dass die GefĂ€hrdung wie der Bezug zur Schweiz mit offiziellen Dokumenten und Unterlagen nachgewiesen werden muss. Fahim muss zum Beispiel Geburtsscheine seines Bruders und AuszĂŒge aus dem afghanischen Familienregister beschaffen, um die Verwandtschaft zu belegen – bloss wie? «Es gibt keine funktionierende Verwaltung in Afghanistan, ausserdem wĂ€re ein direkter Kontakt zu den Machthabern wirklich viel zu gefĂ€hrlich», sagt der junge Mann. «Vielleicht hilft ein Bluttest weiter? Ich werde auf jeden Fall alles versuchen, was von hier aus möglich ist.»

Fahims Bruder wie auch seine Familie sind aus Sicht der Schweiz zu wenig gefĂ€hrdet fĂŒr ein humanitĂ€res Visum. Ein Familiennachzug ist der Kernfamilie (Ehepartner und minderjĂ€hrige Kinder) vorbehalten. Und so geht es Fahim wie den 7799 anderen Afghaninnen und Afghanen, die ihre Angehörigen kaum auf legalem Weg aus Afghanistan retten können. Sie harren aus, bleiben tapfer, suchen gemeinsam ĂŒber ihre erprobten Diasporanetze weiter nach ihren Angehörigen, unterstĂŒtzen sie mit Geld. «Meine Hoffnung ist, dass die Menschen ĂŒberall verstehen, dass wir alle gleich sind und dass Krieg nichts mit Religion und Gott zu tun hat, sondern nur mit Macht und Geld», hat Fahim seinen MitschĂŒlern Ende Juni bei der AbschlussprĂ€sentation in der Berufsschule gesagt. Zwei Monate spĂ€ter nahm die religiös motivierte Macht in seiner Heimat Überhand.

*Name der Redaktion bekannt