Frontex erneut im Kreuzfeuer der Kritik

13. November 2020

Der europäischen Grenzschutzagentur Frontex werden erneut Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen. Die deutsche Zeitschrift «Der Spiegel» und ihre Partner berichteten Ende Oktober, Frontex sei aktiv an illegalen Pushbacks von Schutzsuchenden im Mittelmeer beteiligt gewesen. Die Europäische Kommission hat den Frontex-Direktor aufgefordert, vor dem Parlament Rechenschaft abzulegen.

Die griechischen Grenzschützer haben in grossem Umfang Schutzsuchende auf offener See in türkische Gewässer zurückgewiesen. Frontex, die europäische Grenzschutzagentur, hat nicht nur Kenntnis von illegalen Pushbacks, sondern ist sogar selbst an solchen beteiligt. Diesen Schluss legen Recherchen der deutschen Zeitschrift «Der Spiegel» und ihrer Partner nahe, die Ende Oktober einen Bericht mit Zeugenaussagen und Bildmaterial veröffentlichten. Bereits 2019 stellten mehrere europäische Medien umfangreiche Untersuchungen an und berichteten in der Folge von Gewalt und Misshandlungen durch Frontex gegen Schutzsuchende in Bulgarien, Ungarn und Griechenland. Die neuerlichen Anschuldigungen sind keine Überraschung: Seit Jahren gibt es Berichte über Pushbacks an den EU-Aussengrenzen und weitere Menschenrechtsverletzungen.

Die Kritik wird lauter, doch das genügt nicht

Ende Oktober forderte EU-Innenkommissarin Ylva Johansson den Frontex-Direktor Fabrice Leggeri umgehend dazu auf, die Vorwürfe zu prüfen und die Verantwortung zu übernehmen. Frontex kündigte in einer Medienmitteilung eine Untersuchung an und betonte, sie habe noch keine Dokumente oder Indizien dafür, welche die Anschuldigungen der Medien stützten.

Das Thema wurde am 10. November 2020 an einer Dringlichkeitssitzung des Management Boards von Frontex diskutiert, wobei der Direktor der Agentur unter Druck geriet. Fabrice Leggeri muss die Fragen des EU-Parlaments zur Rolle von Frontex bei illegalen Pushbacks von Schutzsuchenden demnächst beantworten.

Laut einer Mitteilung von Frontex vom 11. November wird unter anderem eine Untersuchungskommission eingesetzt, die rechtliche Fragen betreffend See-Einsätze an den Grenzen untersuchen und Stellung zu den Bedenken der Mitgliedstaaten nehmen soll. Für die SFH ist diese Massnahme unzureichend, angebracht wäre stattdessen eine unabhängige und transparente Untersuchung.

Verantwortung der Schweiz

Die SFH verurteilt die von Frontex begangenen massiven Grundrechtsverletzungen aufs Schärfste. Den Zugang zu einem fairen Asylverfahren zu behindern, bedeutet einen Verstoss gegen die Menschenrechte: Asyl zu suchen ist ein Menschenrecht, und dieses gilt für alle, unabhängig davon, wie jemand in ein Land gelangt ist.

Aus Sicht der SFH steht auch die Schweiz in der Verantwortung, da sie seit 2009 direkt an der Finanzierung und an Operationen der Frontex beteiligt ist. Das Schweizerische Grenzwachtkorps ist in Ausbildungsprogramme, die Erarbeitung von Risikoanalysen und in Operationen an den Aussengrenzen des Schengen-Raums involviert. Jedes Jahr werden etwa 40 Mitglieder des Schweizerischen Grenzwachtkorps an die europäischen Aussengrenzen entsendet.

Die Schweiz ist angesichts ihrer Mitwirkung bei Frontex mitverantwortlich für die beklagenswerten Ereignisse an den EU-Aussengrenzen. Sie sollte ihre Zusammenarbeit mit Frontex dazu nutzen, die Einhaltung der Menschenrechte zu unterstützen und entsprechende Schwerpunkte zu setzen. Die Schweiz muss darauf hinwirken, dass die Grenzüberwachung menschenrechtskonform erfolgt und Beschwerdemöglichkeiten im Falle von Verstössen existieren.

Im Rahmen der Präsentation des neuen Asyl- und Migrationspakets am 23. September 2020 schlug die Europäische Kommission eine unabhängige Kontrollinstanz vor, die Beschwerden wegen Grundrechtsverletzungen an den EU-Aussengrenzen prüft. Eine solche Instanz könnte allfällige Verstösse jedoch nur wirksam prüfen, wenn gewisse Bedingungen erfüllt sind. Eine Allianz von NGOs, der die SFH via ECRE ebenfalls angehört, hat in diesem Sinne Leitlinien zu den nötigen Voraussetzungen veröffentlicht. Sind diese nicht gegeben, ist die von der EU-Kommission vorgeschlagene Instanz eine blosse Alibiübung und die Verstösse gehen weiter.

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