Auf dem Weg ins Innere des Fussballstadions

13. Oktober 2020

Asylsuchende Somalierinnen und Somalier werden meist nur vorlĂ€ufig aufgenommen, obwohl sich die Lage in ihrem Herkunftsland seit vielen Jahren kaum verbessert. Viele sind von der dort erlebten Gewalt traumatisiert. O.H. lernt, damit umzugehen und kĂ€mpft jeden Tag fĂŒr seinen bescheidenen Lebenstraum.

12.40 Franken pro Tag mĂŒssen fĂŒr Essen, Kleidung, Hygiene und MobilitĂ€t genĂŒgen. «Das gibt im Monat ungefĂ€hr 370 Franken. Die Monate mit 31 Tagen sind mir sympathischer, als zum Beispiel der Februar», sagt O.H. der anonym zu bleiben wĂŒnscht. Ein feines LĂ€cheln erhellt kurz sein ernstes Gesicht. Die erlittene Gewalt in seiner Heimat und die schreckliche Flucht aus Somalia ĂŒber Libyen und das Mittelmeer haben Spuren hinterlassen. Aber auch die grosse Sorge und Verantwortung, die er jetzt in der sicheren Schweiz fĂŒr seine leidende Familie in Somalia trĂ€gt, plagen O.H. Zweimal im Monat ruft er seine vier Schwestern und die zwei kranken BrĂŒder an. Noch lieber wĂŒrde er ihnen jeden Monat einen Teil seines Lohnes ĂŒberweisen. «Eine Arbeit mit F-Ausweis zu finden, das ist sehr schwer», erklĂ€rt O.H. «Seit MĂ€rz 2020 bin ich vorlĂ€ufig aufgenommen. Ich habe schon sehr viele Bewerbungen geschrieben. Reinigungs-, Verpackungs- und Recyclingfirmen oder Auslieferdienste habe ich angerufen, bin persönlich an Ort und Stelle vorbei – ohne Erfolg». Eine Speditionsfirma wĂŒrde ihn sofort auf Abruf im Stundenlohn einstellen, hĂ€tte er denn einen FĂŒhrerschein. Theorie und Nothelferkurs hat er bereits gemacht, aber die praktische PrĂŒfung ĂŒbersteigt seine Finanzen. Er zeigt den Kostenvoranschlag einer Autofahrschule von ĂŒber 2‘000 Franken, Verkehrskurs und PrĂŒfung inbegriffen. «Was kann ich tun? Ich möchte bloss eine Arbeit finden, keine Sozialhilfe beziehen mĂŒssen und ein ruhiges Leben in Frieden und Freiheit fĂŒhren, nicht mehr und nicht weniger».

Jeder beutet jeden aus

O.H. ist 1980 in Jameeco, einem kleinen Dorf nahe der Distrikthauptstadt Buuloburte geboren, im Herzen Somalias, wie er sagt. «Wegen der DĂŒrre sind 1989 alle unsere Tiere verdurstet und wir mussten flĂŒchten», berichtet O.H. «Ein Jahr spĂ€ter, als ich zehn Jahre alt war, kam der Krieg in unsere Gegend, alles wurde geplĂŒndert und zerstört». Hunger und Armut nahmen wegen der Kampfhandlungen zu, es folgte mit dem Sturz von Siad Barre 1991 der somalische BĂŒrgerkrieg. Seither sind knapp 4 Millionen Somalierinnen und Somalier abhĂ€ngig von humanitĂ€rer Hilfe, die HĂ€lfte der Bevölkerung. Über eine Million versucht als intern Vertriebene zu ĂŒberleben, Hunderttausende sind in die FlĂŒchtlingslager der Nachbarstaaten Kenia und Äthiopien geflohen. Einigen Wenigen gelang so wie O.H. die lebensgefĂ€hrliche Flucht nach Europa: «In Somalia gibt es keine funktionierende Regierung mehr. Terrormilizen, Clans und MilitĂ€rs regieren das Land. Alle sind korrupt. Jeder beutet Jeden aus. Du kannst niemandem mehr vertrauen». In seinem Gesicht spiegelt sich Abscheu, Verachtung und Verzweiflung; er winkt ab, seine Stimme wird lauter: «Ich habe wirklich alles Mögliche versucht, um eine ehrliche Existenz aufzubauen. Keine Chance! Sie nehmen dir alles, sie schlagen dich, sie foltern dich, sie entfĂŒhren dich, sie töten jeden, der sich ihnen in den Weg stellt, sie sind unberechenbar».

Wieder Vertrauen finden

Sie, das sind neben der gefĂŒrchteten islam-fundamentalistischen Harakat al-Shabaab al-Mujahideen (dt: «Bewegung der Mudschahedin-Jugend») kurz Al Shabaab-Miliz vor allem Mitglieder anderer Clans, die heutigen Warlords Somalias. O.H. muss vor und wĂ€hrend der Flucht Schlimmes erlebt und erlitten haben. Heute kann er dank einer speziellen Therapie besser damit umgehen. «Ich konnte mich nur noch schwer konzentrieren, der LĂ€rm, die vielen verschiedenen Leute, der stĂ€ndige Wechsel und die Unruhe in den verschiedenen Asylzentren machten mich ganz konfus», erzĂ€hlt er. Er blickt zu Boden, als scheint er sich zu schĂ€men fĂŒr seine SensibilitĂ€t. Dabei habe er alles recht gemacht, wie er spĂ€ter in der Therapie erfĂ€hrt. Er griff instinktiv auf zwei wichtige Ressourcen zurĂŒck: seine LernfĂ€higkeit und seine Lernmotivation. «Schon in Somalia habe ich jede Chance genutzt, um mir Mathematik, Englisch und ein Basiswissen ĂŒber Microsoft Office, ErnĂ€hrung und Nothilfe beizubringen. Allerdings ist das dort nur noch bei schlecht ausgebildeten privaten Lehrern fĂŒr viel Geld möglich», erzĂ€hlt O.S. «Lernen gibt mir Halt, Lebenssinn und eine Struktur». Zwei Jahre lang arbeitete er im BeschĂ€ftigungsprogramm einer Asylunterkunft im Berner Seeland mit, besuchte einen Deutschkurs in Biel und eignete sich in kurzer Zeit einen beachtlichen Wortschatz und grammatikalische Kompetenzen an. Doch schliesslich konnte er kaum mehr schlafen und essen, war gereizt, misstrauisch und aggressiv. «Die lange Wartezeit bis zum Asylentscheid ist fĂŒr alle sehr belastend, das ist klar», meint O.H. «Warum aber einige sehr frĂŒh wissen, ob sei bleiben können, und andere so wie ich vier Jahre auf einen Bescheid warten mĂŒssen, das macht unsicher und löst Ängste aus». Auch die beengenden VerhĂ€ltnisse in einer Wohnung mit zwei anderen Asylsuchenden aus Somalia – einer davon schwer psychisch angeschlagen und ohne in Ă€rztliche Behandlung – waren kein gutes Umfeld fĂŒr O.H. «Ich konnte das alles nicht mehr ertragen. Dank der Therapie habe ich meine StĂ€rken kennengelernt». Lernen sei auch Ablenkung, mache den Horizont auf und helfe, neue Perspektiven zu sehen und wieder Vertrauen zu finden.

Kleine UnterstĂŒtzung, grosse Wirkung

Die Finanzierung eines weiterfĂŒhrenden Sprachkurses oder von nötigen Zwischenschritten fĂŒr die berufliche Integration ist fĂŒr vorlĂ€ufig Aufgenommene ein besonderer HĂŒrdenlauf. Im GepĂ€ck maximal ein Sprachkurs und ein fĂŒr Arbeitgebende irritierender Aufenthaltsausweis, sollen sie nun rasch möglichst von der Sozialhilfe unabhĂ€ngig werden. Oft springen dann Stiftungen und Private in die Bresche, wo des Staates Hilfe endet und wo rasche, unbĂŒrokratische Hilfe gefragt ist. Auch die Schweizerische FlĂŒchtlingshilfe (SFH) verfĂŒgt fĂŒr solche Situationen ĂŒber einen kleinen UnterstĂŒtzungsfonds. Auf Antrag seiner Betreuerin hat die SFH O.H. einen Folgekurs in Deutsch, die Lehrmittel und die Reisekosten finanziert. Seine Betreuerin betont, wie wichtig der Kurs gerade zu diesem Zeitpunkt fĂŒr O.H. war: «Der Kurs vermittelte ihm neben der Sprache auch eine Tagesstruktur, förderte seine psychische StabilitĂ€t und sein Selbstvertrauen». Zweimal die Woche zieht sich O.H. die Kickschuhe an. Fussball sei immer seine Leidenschaft gewesen und gebe ihm Kraft: «Ich habe den FC Basel schon in Somalia gekannt. Als ich 2016 im Empfangszentrum Basel war, spielten gerade der FC Liverpool und Titelverteidiger FC Sevilla um den Europa-League-Titel. War das eine tolle Stimmung!» Ob er denn drinnen am Match gewesen sei? Nicht ganz, er habe draussen vor dem St. Jakobs-Stadion den Abfall weggeputzt; aber irgendwann einmal werde auch er drinnen sein. Arbeit finden, die Sprache verbessern, aus der Isolation herauskommen – O.H. kĂ€mpft weiter gegen die Ungewissheit und gegen seine ZukunftsĂ€ngste. Er sagt heute: «Die persönliche Freiheit und die hohe QualitĂ€t aller Dinge, das finde ich das Beste in der Schweiz.»

Die Zahlen dahinter

Knapp 49‘000 Personen oder 86 Prozent aller Menschen im Schweizer Asylprozess leben im Provisorium der vorlĂ€ufigen Aufnahme, das heisst mit einen sogenannten F-Ausweis. Ihre AsylgrĂŒnde wurden nicht anerkannt, aber die Betroffenen können oft schon seit vielen Jahren nicht in ihr Herkunftsland weggewiesen werden, weil dies wegen Krieg, gewalttĂ€tiger Konflikten oder Verfolgungsrisiko nicht zumutbar ist. Über 14‘300 Personen leben seit ĂŒber sieben Jahre in diesem unsicheren Zustand. Somalierinnen und Somalier sind nach den Schutzsuchenden aus Afghanistan (12‘170), Eritrea (10‘147) und Syrien (9‘070) die viert grösste Gruppe im Asylprozess: Ende August 2020 waren 3'272 Menschen somalischer Herkunft im Asylprozess registriert, davon 3'170 vorlĂ€ufig aufgenommen und davon 1388 lĂ€nger als sieben Jahre in diesem Status. Die Schweizerische FlĂŒchtlingshilfe (SFH) fordert fĂŒr diese Menschen seit langem einen vergleichbaren Schutzstatus wie anerkannte FlĂŒchtlinge.