Von Anne-Kathrin Glatz, Länderexpertin SFH
Die Taliban sind aktuell so stark wie seit 2001 nicht mehr. Die Intensivierung der Kämpfe durch die NATO hat laut dem SFH-Update zur aktuellen Sicherheitslage zu einer regelrechten Gegenoffensive der Taliban und des selbst erklärten «Islamischen Staats» (IS)/Daesh sowie zu enormen Verlustzahlen auf allen Seiten, insbesondere aber unter der Zivilbevölkerung geführt. Insgesamt hat der bewaffnete Konflikt von 2009 bis 2017 laut den Vereinten Nationen 28’291 Afghaninnen und Afghanen das Leben gekostet und 52’366 Menschen verletzt zurückgelassen. Allein im ersten Halbjahr 2018 erreichte die Anzahl ziviler Opfer mit 5122 einen neuen Höchststand.
Gefährdung spezifischer Personengruppen
Neben der breiten Bevölkerung sind insbesondere Mitarbeitende von Gesundheitseinrichtungen und von Nicht-Regierungsorganisationen, die zum Beispiel für die Minenräumungen oder für die Verteilung von Grundnahrungsmitteln zuständig sind, Angehörige religiöser und ethnischer Minderheiten einschliesslich der Hazara, Medienschaffende sowie Menschenrechtsaktivistinnen und –aktivisten gefährdet und werden Opfer von Menschenrechtsverletzungen und gezielten Angriffen. Ihre Situation wird unter anderem im SFH-Update zu den Gefährdungsprofilen analysiert. Die beiden Updates stützen sich auf eine Vielzahl neuerer Publikationen und Quellen, unter anderem auf die Ende August 2018 aktualisierten Richtlinien des UNHCR zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender.
Konfliktparteien
Verantwortlich für Kämpfe, Gewaltakte und Menschenrechtsverletzungen sind bewaffnete Oppositionsgruppen wie die Taliban, das Haqqani-Netzwerk und IS/Daesh, aber auch regionale Kriegsherren und Kommandierende von Milizen, ausserdem kriminelle Gruppierungen und nicht zuletzt afghanische und ausländische Sicherheitskräfte, welche mittels Bombardierungen die regierungsfeindlichen Gruppen bekämpfen. Die afghanischen Sicherheitskräfte sind darüber hinaus nicht in der Lage, die eigene Zivilbevölkerung vor Kämpfen und Menschenrechtsverletzungen zu schützen.
Instabile Regierung, korrumpiertes Justizsystem
Afghanistans Regierung ist seit den Wahlkonflikten von 2014 äusserst instabil, zerstritten und kaum handlungsfähig. Die ursprünglich für Juli 2015 vorgesehenen Parlaments- und Distriktratswahlen sind inzwischen auf den 20. Oktober 2018 angesetzt. In den Provinzhauptstädten haben Mitte April 2018 die Wählerregistrierungen begonnen. Doch bereits in der ersten Woche verübten IS/Daesh und die Taliban eine Anschlagswelle auf Wählerregistrierungszentren. Die Zivilbevölkerung ist massiv ein eingeschüchtert. Sie kann auch nicht auf ein funktionierendes Justizsystem vertrauen. Korruption ist weit verbreitet, und es gibt kaum Rechtstaatlichkeit. Afghanische Regierungsbeamte, welche die Bevölkerung schützen sollten, begehen oft selber Menschenrechtsverletzungen und Missbräuche und bleiben in den meisten Fällen straffrei. Dies unterminiert das afghanische Justizsystem.
Prekäre Lage von Rückkehrenden und intern Vertriebenen
2017 sind über 151’000 Afghaninnen und Afghanen aus Pakistan und weitere 395’000 aus dem Iran nach Afghanistan zurückgekehrt – trotz der sich dort dramatisch verschlechternden Situation. Im ersten Halbjahr 2018 war es nochmals eine knappe halb Million aus beiden Nachbarstaaten. Sowohl in Pakistan wie auch in Iran haben viele Afghaninnen und Afghanen einen prekären Aufenthaltsstatus. Aufgrund politischen Drucks in beiden Nachbarländern und der Wirtschaftskrise in Iran entscheiden sich viele für eine Rückkehr nach Afghanistan. Dort erwartet sie ein Leben in vollkommener Abhängigkeit vom eigenen Familienverband oder von internationaler Hilfe. Die Mehrheit von ihnen kann nicht an ihre Herkunftsorte zurückkehren und wird damit zu intern Vertriebenen.
Seit 2012 hat sich die Zahl der intern Vertriebenen verdreifacht; Ende 2016 waren es 1.5 Millionen Afghaninnen und Afghanen. 2017 wurde aufgrund der gewaltsamen Konflikte eine weitere knappe halbe Million intern vertrieben, 50 Prozent davon bereits zum zweiten oder dritten Mal. Die afghanischen Behörden haben bei weitem nicht die nötigen Kapazitäten, um der hohen Zahl von Rückkehrenden und den intern Vertriebenen den notwendigen Schutz und die benötigte Unterstützung bereitzustellen, um ihnen eine sichere Existenz zu ermöglichen. Hierdurch wird unter anderem die Verarmung der Städte gefördert.
Friedensinitiative und kurze Waffenruhe im Juni
Als am 26. März 2018 in Lashkargah ein Selbstmordattentäter ein Auto in eine Menschenmenge gefahren hatte, forderten Mitglieder der Zivilgesellschaft alle Kriegsparteien zu einer Waffenruhe und zu Friedensverhandlungen auf. Am 11. Mai 2018 kündigten die Friedensaktivist_innen mit der Helmand Peace March-Initiative einen Marsch nach Kabul an, um ihrer Forderung Nachdruck zu verleihen. Der Protest schwappte rasch auf 16 weitere Provinzen über, und viele Menschen schlossen sich dem Zug an, der am 18. Juni 2018 nach rund 700 Kilometern die Hauptstadt erreichte. Tatsächlich kam es vom 16. bis 18. Juni 2018 zwischen der Regierung und den Taliban – die die internationalen Sicherheitskräfte jedoch davon ausnahmen – zur ersten Waffenruhe überhaupt.
Hoffnung von Verzweiflung abgelöst
Im August 2018 beantworteten die Taliban einen weiteren Versuch der Regierung, eine Waffenruhe zu starten, mit einer Offensive auf die Provinzhauptstadt Ghazni, die lediglich 150 Kilometer von der Hauptstadt Kabul entfernt ist. Sie nahmen einen Grossteil der Stadt für kurze Zeit ein. Die Kämpfe in Ghazni-Stadt führten zu einer grossen Zahl von getöteten und verletzten Zivilpersonen. Auch im Norden, Westen und Süden des Landes starteten die Taliban Offensiven. Und die Anschlagsserie durch regierungsfeindliche Gruppen in der Hauptstadt Kabul mit einer grossen Zahl von zivilen Opfern setzt sich fort.