Migration und Flucht – das Theater als Ort der Emanzipation und Mobilisierung

26. November 2025

Die SFH hat sich mit Salma Lagrouni, Regisseurin und Vorsitzende des Vereins Women in Action International unterhalten. In ihrem neuen Stück Barîn au-delà des frontières, das am 30. und 31. August 2025 im Théâtre La Traverse in Genf aufgeführt wurde, stehen Frauen auf der Bühne, die von ihren Migrationserfahrungen erzählen. Salma Lagrounis engagiertes Theater schafft so einen Ort, an dem geschlechtsspezifische Gewalt angeprangert und den Stimmen der Frauen Gehör verschafft wird.

Interview geführt von Athénaïs Python

Salma Lagrouni, erzähl uns ein wenig von dir und deinem Weg. Wer bist du?

Ich bin ein einfacher Mensch. Mein Name ist Salma, ich bin Marokkanerin und ich bin Schauspielerin und Regisseurin. Ich habe sowohl als Schauspielerin als auch als Regisseurin an verschiedenen Theaterstücken in Marokko und in Frankreich mitgewirkt. Ich lebe seit etwa zehn Jahren in der Schweiz und mache hier vor allem engagiertes und aktivistisches Theater. In meinen Stücken behandle ich gesellschaftlich relevante Themen, gemeinsam mit den betroffenen Personen. Heute will ich über das Stück Barîn, au-delà des frontières sprechen.

Gerne. Kannst du uns von diesem Stück erzählen, das du mitgeschrieben hast?

Die Idee entstand als Reaktion auf die Bewegung Frau, Leben, Freiheit, die im Iran durch den Tod von Mahsa Amini ausgelöst wurde, als Antwort auf die Gewalt gegen Frauen. Bildern und Zeugenaussagen zufolge wurde diese junge Kurdin geschlagen. Die Behörden hingegen behaupteten, sie hätte ein gesundheitliches Problem gehabt. Mahsa war festgenommen worden, weil sie angeblich ihr Kopftuch nicht richtig getragen hat. Ich habe Shahla Kakai kennengelernt, die in Ravansar, im iranischen Kurdistan aufgewachsen ist. Sie lebt heute als politischer Flüchtling in der Schweiz, in Genf. Wir haben uns im Rahmen der Kampagne gegen häusliche Gewalt Violence Basta! kennengelernt. Wir haben sofort gespürt, dass wir gemeinsam einen Text schreiben möchten, um die Gewalt gegen Frauen anzuprangern. Shahla sollte ein Video über häusliche Gewalt in kurdischer Sprache machen und ich eines auf Arabisch. Nach dieser ersten Begegnung in Genf haben wir haben den Kontakt gehalten. Als ich dann dieses Projekt über Gewalt gegen Frauen im Iran machen wollte, schlug ich Shahla vor, uns auf einen Kaffee zu treffen. Ich dachte mir, sie kenne vielleicht iranische Frauen. Und da hat sie mir ein wenig ihre Geschichte anvertraut. Ich fragte sie: «Kann es sein, dass du die Frau bist, die ich suche?» Sie antwortete: «Ich werde darüber nachdenken. Vielleicht, ja. Ich weiss es nicht. Ich habe nicht damit gerechnet.» Die Musikerin für das Stück wurde mir von Bekannten vorgeschlagen. Wir suchten jemanden, der ein Perkussionsinstrument spielt, das eher im Nahen Osten verbreitet ist. 

Ihr habt beschlossen, Migrantinnen und geflüchtete Frauen auf Französisch spielen zu lassen, obwohl sie diese Sprache nicht perfekt beherrschen. Das war eine der Herausforderungen des Stücks, nicht wahr?

Ja, ganz genau. Denn eine nicht französischsprachige Migrantin oder geflüchtete Frau hat in der heutigen Schweizer Kunstlandschaft praktisch keinen Platz. Ich finde das sehr problematisch, da diese Frauen einen kulturellen und intellektuellen Reichtum und noch so viel mehr zu vermitteln hätten. Aber leider sind Migrantinnen nicht präsent. Es gibt keine Stücke, die von Migrantinnen gemacht werden. Und es gibt keine Stücke, die für und vor allem mit den betroffenen Menschen, den Geflüchteten, gemacht werden. Ich wollte mit dem Stück nicht nur die Gewalt gegen Frauen im Iran anprangern, sondern einen Bogen schlagen und auch eine universelle Reflexion über Gewalt gegen Frauen allgemein anregen. Denn auch in der Schweiz gibt es regelmässig Femizide. Und es gibt auch sprachliche Hierarchien. Ein kanadischer Akzent wird positiv wahrgenommen, gut aufgenommen. Beim arabischen oder kurdischen Akzent ist das anders. Dieses Phänomen nennt man Glottophobie. Wir wollten unseren Akzenten auf der Bühne ganz bewusst Raum geben. Wir haben also gezielt mit den Akzenten gearbeitet. Natürlich mussten die Darstellerinnen den Text auswendig können, ihn richtig lesen, spielen und flüssig vortragen können. Gleichzeitig wollten wir unbedingt alle ihre Akzente behalten. Es waren spanische, kurdische, tunesische, marokkanische und französische Akzente zu hören ... eine Vielfalt, die auch die heutige Schweizer Gesellschaft widerspiegelt. Aber man weigert sich ein wenig, das zu akzeptieren, würde ich sagen.

Es machten auch Frauen mit, von denen die meisten keinerlei Theatererfahrung hatten.

Ganz genau. Der Verein Women in Action International setzt sich für die Rechte von Frauen durch Kunst ein. Wir machen Theaterstücke und Dokumentarfilme. Und wir leiten Theaterworkshops, vor allem mit Frauen. Natürlich sind aber auch andere Geschlechtsidentitäten willkommen. Wir haben mit einer Gruppe von Frauen gearbeitet und wollten unbedingt auch mit Profis, Theaterbegeisterten und betroffenen Personen arbeiten. Jede Person spielt ihre Rolle. Das erfordert viel mehr Zuhören und Wohlwollen, weil auch die menschliche Dimension, die ebenso wichtig ist, zum Tragen kommt. Auch für mich persönlich war das sehr bereichernd, ich habe viel gelernt als Regisseurin. Mit Shahla, die noch nie Theater gespielt hat, aber direkt vom Thema betroffen ist, mussten wir etwas Vorarbeit leisten, um ihr das Theatervokabular beizubringen: Was bedeuten Begriffe wie Bühne, Szene, Kulisse, Bühnenlinks und Bühnenrechts? Wir mussten auch am Text arbeiten, an der Körperhaltung, der Bewegung auf der Bühne, mit vielen Improvisationen und Übungen, um eine gewisse Fluidität zu erreichen. Anschliessend probten wir das Stück gemeinsam. Was den Text betrifft, so gab es zwei Phasen: die Version, die Shahla und ich gemeinsam geschrieben haben, und die Version, die wir letztlich gespielt haben. Im ursprünglichen Text gab es viele Erzählungen, die ihre ganze Kindheit im Iran, ihren Migrationsweg und ihre Flucht nachzeichneten. Und dann ihre Ankunft in der Schweiz, wie sie hier zehn Jahre lang gelebt hat, die Herausforderungen, Schwierigkeiten, die Asylpolitik. Danach galt es, diesen Text zu inszenieren. Also Situationen zu spielen und mitten im Geschehen zu sein. Es sind also zwei verschiedene Texte. Hier ein Auszug aus dem ersten Text:

«Wenn wir unser Haus verliessen, traten wir in eine fremde Welt hinaus. In die Gesellschaft, wo man anders leben musste, sich den Wünschen und Regeln anpassen, eine bestimmte Art, sich zu kleiden, befolgen musste. Es galt als unangebracht für Frauen, auf der Strasse laut zu sprechen oder zu lachen. Die Schule war wie ein Gefängnis: Die Mauern waren hoch, es gab keine Spielsachen, nichts Buntes zu meiner Zeit, alles war dunkel, sogar unsere Kleidung. Und es gab ein Ritual. Jeden Morgen standen zwei Mädchen der Schule am Eingang. Ihre Aufgabe war es, unsere Schultaschen zu kontrollieren. Sie mussten uns verbotene Dinge abnehmen, Kaugummis, Schminke. Sie suchten auch nach kleinen Liebesbriefen, die wir vergessen hatten herauszunehmen, nach Fotos von Jungen oder von berühmten Persönlichkeiten. Ein einfaches Posterfoto von Jennifer Lopez stellte eine echte Gefahr dar. Wir trugen eine Art langen Mantel, der etwa 15 cm unter das Knie reichte und von oben bis unten zugeknöpft war. Im Winter trugen wir einen dicken Pullover darunter. Bis zum Alter von zwölf Jahren trugen die Mädchen ein weisses Kopftuch, das die Haare bedeckte. Aber ab dreizehn war das Kopftuch schwarz, und es musste nicht nur die Haare, sondern auch die wachsende Brust verhüllen. Wenn trotz der Länge des Kopftuchs Haare hervorstanden, mussten wir sie in den Mantel stecken. Uns standen ein oder zwei Verwarnungen zu. Beim dritten Mal wurden die Eltern informiert und das konnte bis zum endgültigen Ausschluss aus der Schule führen. Ich liebte Basketball und bat meine Mutter, mich im Basketballklub für Mädchen in Ravansar anzumelden. Sie zögerte lange, weil sie mich nicht jedes Mal begleiten konnte und meine Sicherheit auf dem Weg nicht gewährleistet war. Sie schlug vor, mir stattdessen das Nähen beizubringen oder ich solle im Garten spielen. Es gab kein Gefühl von Sicherheit. Auf dem Weg konnte man leicht von Jungen belästigt oder angegriffen werden. Ganz gleich, welche Aktivität ich machen wollte, mein Bruder war immer dagegen. Immer.»

Dieser Auszug gibt Einblick in ihr Leben, in ihre Kindheit, vor allem im Iran. Der erste Teil des Textes behandelt die Frage, warum Menschen ihr Land verlassen. Hinter dieser Entscheidung verbirgt sich immer eine Geschichte der Unterdrückung, der Ungerechtigkeit, des Kriegs. Es gibt immer einen Grund. Niemand möchte ganz von vorne beginnen. 

Es ist also ein zugleich künstlerisches, soziales und politisch engagiertes Projekt?

Ganz genau. Ich bin überzeugt, dass das Künstlerische immer auch eine politische und soziale Dimension hat. Ganz automatisch. Alles ist miteinander verbunden. Das Theater ermöglicht eine sanfte Auseinandersetzung. In Diskussionen kommt es oft zu Konfrontationen, es ist ein bisschen wie Krieg. Man ist da, um seine Position zu verteidigen. Das Theater hingegen ermöglicht Vieles. Es ist ein Raum des Zuhörens, des Ausdrucks und des Austausches. Vor allem aber, und das ist am wichtigsten, spricht es mit den Emotionen. Das Publikum kann sich dem nicht entziehen. Es ist wie in der Liebe, wenn man sich sagt, dass es stärker als einer sei, dass man sich wünsche, man würde diese Person nicht lieben, aber einfach nicht anders kann. So ist das Theater. Die Bühne ermöglicht es, zu kommunizieren, zu diskutieren, Impulse zu geben und Emotionen zu wecken. Wenn etwas unsere Emotionen anspricht, beginnt das Nachdenken, es bewegt sich etwas, etwas öffnet sich. Manchmal führt es dazu, das man seine eigene Haltung ändert oder zumindest mehr über ein Thema erfahren möchte. Das Theater ist auch ein Ort, der die Empathie enorm fördert. Ein Format, mit dem das behandelte Thema oft mit einer ganzen Geschichte daherkommt. Es ist also auch ein Ort, an dem Wissen, Informationen, aktuelle Ereignisse und das, was in der Welt passiert, vermittelt wird. Es ist wirklich ein Spiegel der Gesellschaft. Und es ist das, was ich kann. Ich könnte gar nichts anderes tun.

Was gibt das Theater den geflüchteten Frauen?

Ich würde zuerst sagen, es ist das Theater selbst, das die Ehre hat, solche starken und resilienten Menschen auf der Bühne zu haben. Und dann fragen, wie das Theater helfen kann: Es gibt das, was man im Theater Katharsis nennt. Das bedeutet, ich erlebe, was auf der Bühne passiert, ich erlebe die Emotion auf der Bühne, ich identifiziere mich damit und das tut mir gut, es befreit mich. Ich glaube, das geschieht nicht nur zwischen der schauspielenden Person und dem Publikum, sondern auch in der schauspielenden Person selbst. Shahla erzählte mir eines Tages: «Dein Theater ist fast schon wie eine Therapie.» Wenn du die Bühne betrittst, wirst du zur Schauspielerin oder zum Schauspieler. Du nimmst eine andere Haltung ein. Du bist nicht mehr das, was die Gesellschaft dir auferlegt, bist nicht mehr passiv. Du nimmst einen Platz ein, stehst für eine Sache, die du verteidigen möchtest. Das ist eine aktive Haltung, eine Haltung der Emanzipation, der Stärke, des Wiederaufstehens und der Resilienz.

Für dich ist das Theater also wirklich untrennbar mit Aktivismus verbunden, ein Mittel, um seine Stimme und Forderungen zu erheben. Hast du bei diesen Frauen, die über das Theater ihren Platz einnehmen, eine Veränderung beobachtet?

Ja, ich spüre eine Veränderung und sie selbst bestätigen es. Sie sagen, dass ihnen das Theater sehr viel gegeben hat. Ich bestehe aber darauf, dass es in erster Linie das Theater ist, das beehrt wird. Oft glaubt man, es sei eine Art, Menschen zu helfen. Doch diese Menschen bereichern uns enorm. In ihrem Heimatland haben sie studiert und sind zum Beispiel Anwältinnen. Shahla lebte in einem 400 m2 grossen Haus. Hier wohnt sie in einem Zimmer von etwa zwei mal vier Metern. Man glaubt, diese Menschen hätten nichts, seien niemand, dabei sind es doch einfach Menschen!

Wie kann das Theater die Bevölkerung für diese Themen sensibilisieren? Erreicht es neue Menschen oder nur jene, die bereits sensibilisiert sind?

Das Publikum ist bunt gemischt. Menschen, die bereits sensibilisiert sind, Personen der kurdischen Minderheit, Menschen aus dem Iran, die sehen wollten, worum es in einem Stück geht, dessen Hauptstimme die einer kurdischen Frau ist. Wir wissen, was die kurdischen Minderheiten überall durchmachen. Manche erwarten sich auch, etwas Folklore aus dem Orient zu erleben. Andere hatten von den Gewaltverbrechen an Frauen im Iran gehört, waren für diese Thematik sensibilisiert und wollten ein tieferes Verständnis dafür gewinnen. Es ist sehr bereichernd, weil wir nach jeder Vorstellung die Diskussion eröffnen. Uns geht es auch gerade um diesen Austausch. Wir wollten auch die Reaktionen, Beobachtungen, Bemerkungen und Eindrücke des Publikums gleich nach der Aufführung hören. 

Vor welchen Herausforderungen stehen diese Frauen bei der Integration und Teilhabe?

Das Wort «Integration» stört mich sehr. Ich empfinde es als eine Haltung, bei der der Westen die absolute Wahrheit für sich beansprucht, es besser weiss als alle und erwartet, dass sich die anderen anpassen. Was bedeutet Integration überhaupt? Hat man sich überhaupt mit den Ursachen beschäftigt? Weiss man, dass es Kriege gibt? Dass es Kolonisation und Unterdrücker gab? Dass der Westen dazu beiträgt? Man muss diese Haltung der Integration hinter sich lassen, sich mit den Ursachen auseinandersetzen und sich selbst hinterfragen. Dann könnte man vielleicht ein anderes Wort finden, das besser den Austausch oder die Notwendigkeit dieser Menschen beschreibt, ihr Land zu verlassen, weil sie in Gefahr sind, vielleicht verfolgt werden oder Luftangriffen ausgesetzt sind. Shahla hat die Reise zusammen mit ihrem Mann Fazel auf sich genommen. Sie konnte nicht schwimmen. Man muss sich das einmal vorstellen: In ihrer Heimat hat sie einen Abschluss in persischer Literatur, hat die erste von einer Frau geführte Buchhandlung, Barîn, in der Region Hawraman eröffnet. Sie hat in mehreren Zeitungen über die kurdische Frage geschrieben und die ethnischen Minderheiten verteidigt. Sie bringt umfangreiche Erfahrung mit, würde man meinen. Und dann kommt sie in ein anderes Land und soll sich «integrieren». Dabei muss sie all diese Herausforderungen meistern, noch mal ganz von vorne beginnen. Sie hat bis jetzt ihr Leben gelebt, viel erlebt und durchgemacht, aber hier wird fast nichts davon berücksichtigt oder wertgeschätzt. Es braucht viel Zeit, um Fuss zu fassen. Dieses Stück ist auch sehr persönlich. Es erzählt eine wahre Geschichte. Zu Beginn des Schreibprozesses fragte mich Shahla: «Kannst du diesen Teil weglassen?» Ich habe mich immer gefragt, warum. Es gibt Dinge, die man nicht vergisst, die tief in einem sitzen. Ich bin Marokkanerin und habe vielleicht bestimmte Denkmuster in mir, ohne mir dessen bewusst zu sein, auch wenn ich glaube, mich von vielen Mustern befreit zu haben. Diese Denkmuster waren trotzdem immer noch da. Während der Proben sprachen wir manchmal über Shahla. Eine Schauspielerin war sehr emotional, weinte und konnte die Probe nicht fortsetzen. Sie sagte, es berühre sie zu sehr, sie könne nicht mehr. Man merkt oft nicht, wie viel der Körper aufnimmt. Manchmal geht es also nicht nur um die Konzeption und Inszenierung, sondern man muss auch aufmerksam zuhören. Denn schon ganz kleine Dinge können eine Person vielleicht an Erlebtes, an eine schwierige Situation erinnern. Das ist eine sehr heikle Angelegenheit. Menschen ohne Schauspielerfahrung das Theaterspiel zu vermitteln, bedeutet auch, mit solchen Situationen umzugehen. Es ist eine zusätzliche Herausforderung neben der Arbeit auf der Bühne. Es gibt kein Buch, das erklärt, wie man mit solchen Situationen umzugehen hat. Es ist Menschsein. Und was ist komplexer als der Mensch?! Man muss also zuhören, sich verständnisvoll zeigen und immer kommunizieren. Im Theater ist oft von Energie die Rede. Die Energie ist etwas, das man spürt, wenn man morgens eintrifft. Je mehr Menschen man begegnet, desto mehr lernt man über den Menschen und über sich selbst. Ich lerne viel über mich selbst, wie ich in bestimmten Situationen reagiere. Manchmal glaube ich, ich würde auf eine bestimmte Weise reagieren, und tatsächlich reagiere ich dann ganz anders. Das ist so interessant.

Was hast du denn über dich selbst gelernt?

Ich bin sehr aktiv und habe sehr viel Energie. Manchmal reagiere ich schnell. Ich bin für das ganze Team verantwortlich, also muss ich gewisse Dinge aushalten und ruhig bleiben. Aber ich darf mir auch mal einen Moment der Schwäche erlauben. Immerhin behandeln wir sehr starke, tiefgründige, inhaltlich bedeutungsvolle Themen. Wir sind zwölf Personen, ich muss darauf achten, dass alles rundläuft. Wir machen das ja auch, weil es uns Spass macht. Es ist ehrenamtliche Arbeit. Die Leute sind dabei, weil sie es wollen, weil sie sich für das Projekt und die Themen einsetzen möchten. Ich habe deshalb gelernt, erst einmal innezuhalten, bevor ich reagiere. Das Theater ist sehr handlungsorientiert und manchmal muss man sich etwas zurückhalten. Aufpassen, keinen Fehler zu machen, da ich die Verantwortung für das Projekt trage. Und aufpassen, das Team nicht zu verlieren, dass es seine Motivation und Energie behält. Aber ehrlich gesagt ist es auch das Team selbst, das mir diese Energie gibt. Das ganze Projekt über habe ich aus der Energie, dem Willen, der Stärke und der Resilienz des Teams geschöpft.

Du wolltest noch auf das Wort «Barîn» zurückkommen?

Es ist ein Verb, das mehr oder weniger «etwas, das vom Himmel fällt» bedeutet. Shahla hatte es gewählt, weil sie es trotz zahlreicher Schwierigkeiten geschafft hatte, diese Buchhandlung zu eröffnen. Es ist unglaublich schwierig, eine von einer Frau geführte Buchhandlung zu eröffnen. Für sie war es wie ein Geschenk des Himmels. Darum hat sie sie Barîn genannt. Es ist auch ein Frauenname, der in ihrer Region gebräuchlich ist.

Wie können wir uns für diese Themen einsetzen? 

Ich glaube, jede Person sollte bei dem ansetzen, was sie kann. Das ist vielleicht das Einfachste. Ich kann zum Beispiel Theater, also nutze ich es, um etwas zu bewegen. Wer Musik kann, kann komponieren. Ich glaube, man sollte immer bei sich selbst ansetzen, weil dort die Stärke liegt. Gleichzeitig sollte man aber auch in der Gruppe aktiv sein, denn Gemeinschaft und Inklusion sind besonders wichtig. Wenn man wirklich etwas verändern will, muss man sich mit anderen zusammenschliessen und stark auftreten. Man darf nicht die Flinte ins Korn werfen. Nicht nur zwei oder drei Demos machen und dann nichts mehr. Man muss unbedingt weitermachen. Das Leben ist ein Kampf. Alles ist ein Kampf.

Wie haben die Schauspielerinnen die Resonanz auf das Stück erlebt?

Sehr gut, weil wir nicht damit gerechnet hatten, vor ausverkauftem Haus zu spielen. Und das in Sälen mit 90, 100, 120 Plätzen und immer noch 30 bis 40 Leuten auf der Warteliste. Das hat die Schauspielerinnen wirklich überrascht. Sie begriffen, dass das Projekt ernst genommen wird. Die Kommentare waren sehr motivierend. Die Frauen waren sehr glücklich. Deshalb haben sie auch weitergemacht. Ich sage immer, dass man vor allem Spass haben sollte. Wir nehmen die Proben ernst, aber kurz vor Beginn einer Vorstellung sagen wir, dass wir das Spielen beherrschen und jetzt Spass haben werden, selbst wenn etwas schiefgeht. Das Wichtigste ist, dass wir Spass haben, das ist der Hauptgrund, warum wir hier sind. Nicht alle hatten früher die Möglichkeit, Theater zu spielen, aber manche haben sich das schon immer gewünscht. Merchet ist professionelle Schauspielerin und Mayumi machte Amateurtheater. Nezra spielte zum ersten Mal Theater, hatte aber schon immer davon geträumt, aber nie die Gelegenheit dazu. Shahla ist die Hauptdarstellerin. Berin, die Musikerin, ist sehr engagiert. Sie hat die Musik komponiert, die live gespielt wird. Die Kostümbildnerin hat auch Kostüme mit vielen Knoten entworfen, um zu symbolisieren, dass etwas in uns verknotet ist, von dem wir uns befreien wollen.

Wie habt ihr das Lampenfieber in den Griff bekommen?

Es gibt natürlich Übungen zur Vorbereitung von Körper und Stimme, bevor man zu spielen beginnt. Ich habe auch vorgeschlagen, eine Durchlaufprobe, also eine Aufführung unter realen Bedingungen, vor einem Publikum nur aus den Familien und engen Bekannten zu machen. Sie haben mit den Kostümen, der Beleuchtung gespielt. Viele empfanden es sogar als stressiger, vor ihren Angehörigen, ihren Kindern zu spielen, und hatten noch mehr Lampenfieber als vor einem Publikum aus völlig Unbekannten. Im Theater gibt es auch einen wichtigen Trick gegen Stress, und zwar das «Hier und Jetzt». Ich sagte ihnen immer: «Wir vergessen, was war, bevor wir die Bühne betreten. Was ich soeben gesagt habe, gehört schon der Vergangenheit an. Wir konzentrieren uns nur auf das Hier und Jetzt.»

Rund um dieses Projekt ist eine eng zusammengeschweisste Gruppe entstanden. Macht dir das Lust, neue Stücke oder Projekte mit ihr auf die Beine zu stellen? 

Im Verein arbeiten wir tatsächlich jedes Mal mit einer anderen Gruppe. Es geht nicht darum, immer mit denselben Leuten zu arbeiten. Für jedes Projekt stellen wir eine Gruppe zusammen und suchen Leute, die Lust haben, an genau diesem Projekt mitzuwirken, und etwas einbringen können. Es ist also jedes Mal eine andere Gruppe. Unser erstes Theaterstück, das auch viel in der Westschweiz gespielt wurde, hiess «Cellule numéro 1». Das war mit einer komplett anderen Gruppe. Ich arbeite sehr gerne mit Aktivistinnen und Aktivisten und Vereinen zusammen. Wir versuchen, in den verschiedenen Städten Partnerschaften aufzubauen, mit Aktivistengruppen, die Diskussionen organisieren und mehr Leute mobilisieren können. Danke übrigens für die tolle Initiative «Tour de Suisse der Menschlichkeit». Meiner Ansicht nach braucht es heutzutage immer mehr Initiativen dieser Art, die hinaus auf die Strasse gehen, den Kontakt zu den Leuten suchen und zum Austausch und Nachdenken anregen.

Gemeinsam für Geflüchtete

Jetzt spenden