Wegweisung eines homosexuellen Gambiers: EMRK rügt die Schweiz

26. November 2020

In einem kürzlich veröffentlichten Urteil rügt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) die Schweiz wegen der verfügten Wegweisung eines homosexuellen Gambiers. Das Urteil verdeutlicht die ungenügende Schweizer Praxis gegenüber asylsuchenden LGBTQI-Personen.

Konkret geht es um den Fall eines Gambiers, der seit längerer Zeit in der Schweiz lebt. Nach einem mehrfach abgelehnten Asylgesuch und einem abschliessenden Entscheid des Bundesgerichts von 2018 hätte dieser die Schweiz verlassen müssen. In seinem Urteil vom 17. November 2020 hält der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) nun fest, dass die Schweiz mit ihrem Wegweisungsentscheid gegen das Folterverbot in Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verstossen habe. Gemäss dem Gericht hat die Schweiz ungenügend abgeklärt, ob der erwähnte Gambier bei einer Wegweisung in sein Herkunftsland wegen seiner Homosexualität gefährdet wäre. Insbesondere wirft der EGMR der Schweiz vor, nicht abgeklärt zu haben, ob die lokalen Behörden auch willens und fähig wären, gegen allfällige Gefährdungen durch nicht-staatliche Akteure vorzugehen.

Die Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH) begrüsst das Urteil. Aus ihrer Sicht reicht es nicht aus, bei einem Wegweisungsentscheid nur die rechtliche Lage in einem Land zu beurteilen und ob die vorhandenen Gesetze angewendet werden, sondern es ist zu prüfen, ob die betreffenden Personen gegen jede Form von Gefährdung geschützt sind, also zum Beispiel auch dann, wenn letztere von privaten Akteuren ausgeht. Aus Sicht der SFH verdeutlicht das Urteil die generell ungenügende Schweizer Praxis gegenüber LGBTQI-Personen im Asylbereich. So reicht das Vorhandensein staatlicher Gesetze im Herkunftsland der Gesuchstellenden, die Homosexualität unter Strafe stellen, nicht aus, um in der Schweiz Schutz zu erhalten. Damit dies geschieht, müssen LGBTQI-Personen glaubhaft machen können, dass sie bei einer Wegweisung in ihr Herkunftsland unmittelbar einer Gefahr ausgesetzt sind. Dabei gehen die Schweizer Behörden in ihrer Praxis zuweilen vom Grundsatz aus, dass LGBTQI-Personen in ihrem Herkunftsland nichts zu fürchten haben, solange sie sich «unauffällig» verhalten und ihre sexuelle Orientierung oder geschlechtliche Identität verheimlichen. Die SFH hat diese Praxis der Schweizer Behörden wiederholt kritisiert. In Übereinstimmung mit internationalen Richtlinien hält sie fest, dass es nicht um die Klärung gehen kann, ob Schutzsuchende im Falle einer Rückkehr unauffällig im Herkunftsland weiterleben können, sondern darum, was geschehen kann, wenn deren Identität aufgedeckt wird. Für die SFH ist die sexuelle Identität integraler Bestandteil der Identitätsbestimmung einer jeden Person und darf unter keinen Umständen unterdrückt oder in Frage gestellt werden.

Um LGBTQI-spezifische Fluchtgründe zu erkennen und die Rechte von LGBTQI-Asylsuchenden zu wahren, hat die SFH zusammen mit anderen Organisationen vor einiger Zeit einen Leitfaden für Rechtsvertretende und Rechtsberatende entwickelt. Dieser enthält auch Empfehlungen zum Empfang, der Unterkunft und der Versorgung von asylsuchenden LGBTQI-Personen.