«Man kann niemanden unterdrücken, den es nicht gibt»

22. August 2019

Tschetschenische Behörden haben zu Beginn des Jahres eine neue Kampagne gegen schwule und lesbische Menschen gestartet. Betroffene berichten von widerrechtlichen Festnahmen, Prügel, Erniedrigungen und Folter.

Von Adrian Schuster, SFH-Länderexperte

Lesbische, schwule, bisexuelle, transsexuelle, queer und intersexuelle Menschen (nach der englischen Abkürzung LGBTQI) haben in der sehr konservativen und mehrheitlich muslimischen Gesellschaft Tschetscheniens einen schweren Stand. Homosexualität wird als Schande für die Familienehre wahrgenommen. Hochrangige Behördenvertreter verstärken diese Haltung, indem sie öffentlich «Ehrenmorde» an schwulen und bisexuellen Männern billigen.

Elektroschocks und Vergewaltigung

Im Frühling 2019 schlugen Menschenrechtsorganisationen, Aktivistinnen und Aktivisten Alarm: Die tschetschenischen Behörden hätten eine Kampagne von Gewalt und Festnahmen gegen LGBTQI-Menschen gestartet. Betroffene berichteten gegenüber Human Rights Watch von Erniedrigungen, Prügel und Folter mit Elektroschocks. Eine der interviewten Personen wurde in Haft vergewaltigt. Damit erzwangen die Polizeikräfte die Denunzierung weiterer Homosexueller aus dem sozialen Umfeld der Inhaftierten. Nach Angaben einer prominenten russischen LGBTQI-Organisation wurden in Dezember und Januar in der Hauptstadt Grosny mindestens 14 homosexuelle Männer festgenommen und misshandelt. Andere Quellen geben Hinweise auf eine deutlich höhere Zahl.

«Säuberung» der Nation

Das aktuelle Vorgehen ruft Erinnerungen an die Verfolgungen aus dem Jahr 2017 wach. Damals führten die tschetschenischen Behörden eine beispiellose Kampagne gegen LGBTQI-Menschen durch. Das Ziel war, die «Nation von Schwulen zu säubern». Die Polizei und das Militär gingen damals in brutaler Weise gegen LGBTQI vor, hielten sie in Geheimgefängnissen fest, wo sie geschlagen und gefoltert wurden. Im Rahmen der Kampagne wurden LGBTQI-Menschen sowohl von Behördenvertretern ermordet wie auch von ihren Verwandten «bestraft», respektive getötet, nachdem sie von Behörden «geoutet» worden waren. Eine durch die russischen Behörden durchgeführte Untersuchung möglicher Verbrechen gegen LGBTQI-Menschen in Tschetschenien, welche erst auf starken internationalen Druck westlicher Staatsoberhäupter und internationaler Institutionen durchgeführt wurde, hat keine konkreten Resultate ergeben. Die Straflosigkeit der Taten fördere das erneute Auftreten der Behörden-Gewalt gegen LGBTQI-Menschen, sind Beobachterinnen und Beobachter vor Ort überzeugt.

Nach Ansicht des damaligen Sprechers des tschetschenischen Präsidenten Ramsan Kadyrow gab es 2017 keine derartigen Vorkommnisse, da es in Tschetschenien keine LGBTQI-Menschen existierten: «Man kann niemanden verhaften oder unterdrücken, den es in der Republik gar nicht gibt», liess er verlauten. Und wenn es doch welche geben würde, so seien sie kein Problem für die Polizei, da «ihre Verwandten sie bereits an einen Ort geschickt haben, von wo sie nie zurückkehren könnten.»

Morddrohungen gegen Aktivisten

Hilfe für die Betroffenen ist vor Ort kaum möglich. Menschenrechtsaktivistinnen und -aktivisten sind in Tschetschenien nicht sicher. Ein bekannter russischer LGBTI-Aktivist, welcher eine Anzeige zu den aktuellen Ereignissen bei der Polizei einreichte, erhielt in der Folge Morddrohungen. Dies macht die Arbeit auch für die SFH-Länderanalyse schwierig, da viele ihrer Erkenntnisse auf der Arbeit dieser mutigen Menschen vor Ort beruhen.

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