Erfolgreich jonglieren zwischen Beruf und Familie

11. Oktober 2019

Mit 26 Jahren hat Nazriet Yosief aus Eritrea schon viel erreicht. Sie hat das Eidgenössische FÀhigkeitszeugnis als Detailhandelsfachfrau erworben und absolviert zurzeit eine Ausbildung als kaufmÀnnische Angestellte.

Von Karin Mathys, Redakteurin bei der SFH

Nazriet Yosief war 19 Jahre alt, als sie im Rahmen der FamilienzusammenfĂŒhrung in die Schweiz kam. Sie sprach kein Wort Französisch. Dass sie die Sprache heute fliessend beherrscht, verdankt sie vor allem ihrer Entschlossenheit und ihrem pragmatischen Denken. Sie hat sich selbst sehr schnell strenge Regeln gesetzt und diese diszipliniert eingehalten. «Ich wollte Französisch lernen und schnell Fortschritte machen. Da mein Mann vor mir in der Schweiz angekommen war und schon gut zurechtkam, habe ich ihn gebeten, zu Hause nur in dieser Sprache mit mir zu sprechen.»

Auf der Suche nach einem Ausbildungsplatz

Im MĂ€rz 2014 bringt Nazriet Yosief ein kleines MĂ€dchen zur Welt. Sie gibt jedoch den Gedanken, einen Ausbildungsplatz zu finden, nicht auf. Ganz im Gegenteil. Ihr gesamtes Handeln ist fortan darauf gerichtet, gute Voraussetzungen fĂŒr die Zukunft ihres Kindes zu schaffen. Um sich voll einer Ausbildung widmen zu können, muss sie jedoch zunĂ€chst einen Krippenplatz fĂŒr ihre Tochter finden. «Ohne eine solche Betreuung wĂ€re es mir nicht möglich gewesen, eine Ausbildung in Vollzeit zu machen», erklĂ€rt sie.

Nachdem die junge Mutter einen Betreuungsplatz fĂŒr ihre Tochter gefunden hat, arbeitet sie drei Monate ehrenamtlich bei der Caritas im Bereich Verkauf. Gleichzeitig wird sie von den Mitarbeitenden der Caritas bei ihrer beruflichen Laufbahn unterstĂŒtzt: «Sie zeigten mir, wo ich Internetseiten mit Stellenanzeigen finden kann, korrigierten meinen Lebenslauf und meine Motivationsschreiben. Ausserdem haben sie mich auf die VorstellungsgesprĂ€che vorbereitet: wie ich einen Arbeitgeber von mir ĂŒberzeuge, meine Motivation und mein Interesse an der Stelle zeige und so weiter.»

Neben der UnterstĂŒtzung durch die Caritas Mitarbeitenden konnte Nazriet Yosief stets auf die UnterstĂŒtzung ihres Ehemannes zĂ€hlen. «Er war immer fĂŒr mich da, auch wenn ich ungeduldig wurde. Er sagte mir, dass ich am Ende etwas finden wĂŒrde, und verglich meine Situation hĂ€ufig mit der Situation in einem Radrennen. ‚Das Ziel ĂŒberquert man letztlich nur, wenn man immer weiterstrampelt‘, sagte er immer wieder, um mich zu ermutigen.»

Und so kam es dann auch: Nachdem die junge Frau etwa fĂŒnfzig Bewerbungen abgeschickt hatte, erhĂ€lt sie eine positive Antwort. Im Februar 2016 absolviert sie dann ein Schnupperpraktikum im Bereich Verkauf. Diese einwöchige Erfahrung in einer Tankstelle gibt ihr einen Vorgeschmack auf den Beruf und ermöglicht ihr herauszufinden, ob sie diesen Weg einschlagen möchte. Am Ende des Praktikums wird sie von ihrem Arbeitgeber beurteilt, der sehr zufrieden mit ihrer Arbeit ist. Er verlĂ€ngert das Praktikum zunĂ€chst um zwei Wochen und bietet ihr anschliessend einen Ausbildungsplatz an.

Der Weg zum Diplom

Drei Jahre lang jongliert die junge Eritreerin zwischen der Berufsausbildung in der Tankstelle und der theoretischen Ausbildung in der Berufsschule. Sie gesteht, dass sie bei jeder PrĂŒfung doppelte Arbeit leisten muss: «Ich musste zunĂ€chst die Texte und Fragen aus dem Französischen ĂŒbersetzen, eine Sprache, die nicht die geringste Ähnlichkeit mit meiner Muttersprache Tigrinisch hat. Dann musste ich mir Zeit fĂŒr die Antworten nehmen. HĂ€ufig waren es Fachbegriffe, die ich noch nie zuvor gehört hatte.»

Ihre Beharrlichkeit, ihre Reife und eine gute Organisation von Berufs- und Familienleben sorgten dafĂŒr, dass sie im Juli 2019 ihr Eidgenössisches FĂ€higkeitszeugnis als Detailhandelsfachfrau erworben hat. «WĂ€hrend meiner Ausbildung verkörperte ich drei Rollen: Mutter, Frau und Auszubildende. Es war nicht leicht, alles unter einen Hut zu bringen, aber ich habe es geschafft. Wenn es mir gelungen ist, dorthin zu gelangen, wo ich heute stehe, dann kann das jeder schaffen», sagt sie mit Begeisterung.

Fragt man sie nach ihren ZukunftsplÀnen, antwortet die junge Frau, dass sie im August eine weitere Ausbildung als kaufmÀnnische Angestellte bei der Gemeinde Renens im Kanton Waadt begonnen hat. Sie freut sich nun, sich bald am Wirtschaftsleben des Landes zu beteiligen, das sie aufgenommen hat, und vielleicht spÀter den eidgenössischen Fachausweis zu erlangen. Ihr ist es besonders wichtig, Zeit mit ihrer Tochter und ihrem Ehemann zu verbringen, die die wesentlichen TriebkrÀfte in ihrem Leben sind.

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