Text und Fotos: Barbara Graf Mousa, Redaktorin SFH
Samstagmorgen im Januar im Kirchgemeindehaus im aargauischen Windisch. Da ein Kichern, dort ein aufblitzendes Handy; neugierig und gespannt harren 24 Konfirmandinnen und Konfirmanden der Dinge…
Am Morgen steht die Simulation einer Flucht auf dem Programm, nachmittags gibt es Filmausschnitte zu sehen und eine persönliche Fluchtgeschichte zu hören. Klingt nach viel Unterhaltung mit etwas Gedankenaustausch. Weit gefehlt, denn gleich ist es vorbei mit der Gemütlichkeit… Zuvor aber gibt es noch etwas Theorie. «Wann müsstet ihr flüchten und sofort die Schweiz verlassen?» Die Frage des SFH-Migrationsfachmanns Gasim Nasirov irritiert zunächst.

Stille, dann etwas Getuschel und eine erste zögerliche Antwort: «Bei Terroranschlägen». «Natürlich, wenn die Sicherheit im Land bedroht ist», ermuntert der Workshopleiter die 15-jährigen Jugendlichen. Sie fassen Mut und nun sprudeln die Antworten: «Wenn ich diskriminiert würde», «wegen Naturkatastrophen», «wenn die Politik ändert und wir die Neutralität verlieren».
Dieser Perspektivenwechsel führt die Konfirmandinnen und Konfirmanden über ihre eigenen Gedanken zu den «klassischen» Fluchtgründen von Schutzsuchenden.
Jetzt werden Gruppen gebildet, jeder übernimmt eine Rolle: Familienvater, junge Frau alleine mit Kind, junger Mann, desertiert aus dem Militär und so weiter – Flüchtlingsrealität eben…
Um die Jugendlichen eine Flucht möglichst real simulieren zu lassen, verkleidet sich das SFH-Bildungsteam nun als Milizen, Schlepperinnen und Schlepper, Grenzwächterinnen und Grenzwächter und UNHCR-Mitarbeitende mit entsprechenden Requisiten. Die Jugendlichen selber spielen im Kirchgemeindehof eine Hochzeitsgesellschaft, die plötzlich von einem Luftangriff überrascht wird. Sie verlieren den Kontakt zu ihrer Gruppe, müssen militärisch barsch angewiesen sinnlose Bewegungen machen, werden in einen dunklen Raum verschleppt…
Dort suchen sich unberechenbare Milizen ein paar Opfer aus, die von der Gruppe unter Schreien entfernt werden. Gibt es einen Ausweg? Durch ein Lüftungsgitter zwängen sich die Zurückgebliebenen in die vermeintliche Freiheit… Doch die Freiheit entpuppt sich als Minenfeld, über das nun alle vorsichtig hüpfen müssen, während am Himmel bedrohlich Helikopter kreisen. Auch zwei Verletzte müssen mitgetragen werden, das gefährdet alle noch stärker.
Nun haben die Simulationsspielenden eine Landesgrenze erreicht, doch das Zollpersonal will bestochen sein. Wer noch etwas Schmuck oder andere Wertsachen hat, muss es jetzt hergeben, sonst bleiben die Grenzbalken unten.
Endlich gelingt der erkaufte Schutz und alle drängen ins bereits überfüllte UNO-Flüchtlingslager. Zuvor müssen sich alle registrieren, den Fingerabdruck geben, sich desinfizieren lassen.
Nun sind sie in Sicherheit, doch Essen und Medikamente gibt es kaum und Nachschub ist erst in ein paar Wochen in Aussicht… bleiben und ausharren oder weiter flüchten ins Ungewisse? Ein Guetzli hilft bei der Beratung in der Gruppe…
Etwa die Hälfte der Gruppen beschliesst, die Flucht fortzusetzen. Die andere Hälfte bleibt im Lager, wo die Lebensumstände zwar schwierig sind, doch wenigsten etwas Schutz und Sicherheit zu erwarten ist
Das Spiel ist zu Ende. Jetzt dürfen die Handys wieder zurückgeholt werden, Erleichterung macht sich breit…

Was hat das Simulationsspiel ausgelöst?
«Ich war beeindruckt, wie viel und wie schnell man auf einer Flucht unter Druck sehr viele Dinge entscheiden muss», sagt einer. «Mir ging das sehr unter die Haut», meint eine andere stellvertretend für viele. «Das ist besser als Powerpoint-Folien.»
«Es ist ein ziemlicher Unterschied, wenn man selber erleben kann, was auf einer Flucht passiert», sind sich die beiden junger Männer einig.
Eine persönliche Fluchtsgeschichte
Am Nachmittag stehen ein Film und die persönliche Fluchtgeschichte von Joséphine Niyikiza aus Ruanda auf dem Programm. Als sie zu erzählen beginnt, wird es ganz still im Saal.
Nach zehn Jahren Flucht lebt sie heute mit ihrem Mann und den drei Kindern in Rapperswil Jona, ist Fachfrau Gesundheit geworden und in vielen Vereinen im Dorf aktiv. Sie arbeitet zudem wie rund 20 andere anerkannte Flüchtlinge als externe Mitarbeiterin für die SFH. So wie jetzt erzählt sie am SFH-Projekttag «Flucht & Asyl» häufig ihre persönliche Fluchtgeschichte: «Ich bin nicht die erste und sicherlich nicht die letzte, die flüchten muss. Niemand flüchtet freiwillig. Deshalb will ich weitergeben, was ich erlebt habe, wenn es anderen hilft», sagt sie.
Die Jugendlichen sind beeindruckt: «Die Geschichte von Joséphine hat mich sehr berührt. Auch dass man sie alles fragen konnte, fand ich super», meint eine Konfirmandin.
«Ich habe heute viel Neues erfahren, zum Beispiel, dass eine Flucht so lange dauern kann wie Josephine erzählt hat – zehn Jahre, unglaublich! Oder dass Schlepper nicht nur schlechte Sachen machen», sagt eine andere junge Frau.
Der Projekttag «Flucht & Asyl» ist zu Ende. Was hat er gebracht? Bleibt etwas haften?

Ein paar Eindrücke…
«Wenn ich morgen einem Flüchtling begegne, werde ich an das von heute denken und ihm anders begegnen.»
«Ich finde es erschreckend, wie schwierig es sein kann, Asyl zu bekommen. Es sollte doch möglich sein, alle Leute, die auf der Flucht sind, irgendwo aufzunehmen. Ich finde, die Menschen sollten in diesem Fall über das Geld hinwegsehen.»
Die Pfarrer Peter Weigl und Edlev Bandixen buchen das SFH-Bildungsangebot Flucht und Asyl mit dem Simulationsspiel nun schon seit zehn Jahren für ihre Konfirmandinnen und Konfirmanden.
«Die Jugendlichen bleiben dabei nicht aussenstehende Beobachter, sondern geraten in Bewegung und erfahren am eigenen Leib, wie wenig Kontrolle sie auf der simulierten Flucht behalten, wie ausgeliefert sie den Umständen und wildfremden Drittpersonen gegenüber sind», erklärt Peter Weigl. «Dieser Perspektivenwechsel und die Begegnung mit anerkannten Flüchtlingen, die ihre Fluchtgeschichte erzählen, hinterlassen Spuren.»
Möchten auch Sie mit Ihrem Team am Arbeitsplatz einen einen Perspektivenwechsel wagen und für zwei Stunden in die Haut eines Menschen auf der Flucht schlüpfen? Möchten Sie Ihrer Schulklasse oder Konfirmand/innen-Gruppe diese eindrückliche Erfahrung ermöglichen? Das Simulationsspiel eignet sich für Erwachsene und für Jugendliche; wir beraten Sie gerne.
