«Zäme geit’s!»

Seit acht Jahren teilen Catherine von Graffenried und Pierre Walther ihren Wohnraum mit geflüchteten Menschen aus verschiedenen Herkunftsländern. «Leben und Lernen mit Newcomern» – so nennen sie ihre Wohngemeinschaften – ist für sie eine Wohnform, die bereichert und Neues ermöglicht.

Ali Mohebbi strahlt. Sein Leben hat sich zum Guten gewendet. Endlich dominieren Sicherheit und Wertschätzung seinen Alltag. Ende Monat wird er seinen Intensiv-Deutschkurs abschliessen, das gute Zeugnis hat er bereits bekommen. Und wenn sein Praktikum im Architekturbüro bis im Frühsommer erfolgreich verläuft, möchte er einen ersten «Aareschwumm» wagen.

Das ist ein krasser Gegensatz zu seiner langen, schmerzhaften Flucht aus Afghanistan, in den Iran, über die Türkei bis nach Griechenland. Auf der Insel Lesbos musste er im überfüllten Flüchtlingscamp Moria zwei lange, schreckliche Jahre ausharren. «Ich habe in Griechenland wirklich alles versucht, um ein selbstständiges Leben zu führen, aber einer wie ich hat dort keine Chance.» Ali trägt eine Beinprothese und gilt als besonders verletzlicher Flüchtling. Die Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH) steht mit ihm seit 2020 in Kontakt. «Ich bin den Schweizer Asylbehörden dankbar, dass sie mir im März 2022 ein vorläufiges Bleiberecht gegeben haben».

Am Anfang war der Schwimmkurs

Heute plant der ehemalige Student aus Teheran mit afghanischen Wurzeln mit Catherine und Pierre Schritt für Schritt seine Zukunft in der Schweiz. «Es hilft nicht nur dem Integrationsprozess, sondern auch dem Zusammenleben, wenn die Newcomer bald eine Tagesstruktur haben», sagt Catherine. «Mit Ali ist ein differenzierter, liebenswerter Mann zu uns gekommen. Wir diskutieren auf Augenhöhe und schätzen unsere Verschiedenheit». Ali bestätigt: «Wir sprechen viel Hochdeutsch, kochen und essen gemeinsam, singen und tanzen, planen und lernen, das ist sehr schön und hilft mir.»

Ali ist sportlich und liebt das Wasser schon seit seiner Kindheit. Bereits nach der Zuweisung in den Kanton Bern im Dezember 2021 in eine Kollektivunterkunft hatte er verschiedene Sportaktivitäten ausfindig gemacht und ausprobiert. So besuchte er jeden Montagabend einen Schwimmkurs. Dort fragte er im Sommer 2022 seine Kollegen, wo er ein Zimmer finden könne. Denn mit der vorläufigen Aufnahme stand für Ali nun die Wohnungs- und Arbeitsuche im Vordergrund. Die Kollegen gaben ihm die Telefonnummer von Catherine und Pierre. Die Beiden engagieren sich seit langer Zeit für Asylsuchende und erleben dabei viel Schönes. Davon zeugen ihre Begeisterung und ein tiefes Mitgefühl, wenn sie über ihre vielfältigen Wohngemeinschaften erzählen.

Ali hatte Glück. Soeben war ein Mann aus Afghanistan ausgezogen und ein Zimmer war frei. Nach dem ersten Tee sagten alle «Ja» zum gemeinsamen Wohnen. Der Untermietvertrag wurde unterschrieben, der Asylsozialdienst informiert, und Ali zog Ende September 2022 von der Kollektivunterkunft in sein möbliertes Zimmer.

Das Positive ĂĽberwiegt

Für Newcomer sei es wichtig, im Umgang mit einem profit-orientierten Gesundheitswesen unterstützt zu werden. «Inzwischen wissen wir einiges über Prothesen», meint Pierre. «Das war eine neue Herausforderung. Ali hatte starke Schmerzen als wir ihn zum ersten Mal trafen. Wir begleiteten ihn zu Ärzten, Physiotherapeuten und Prothesenbauenden, übersetzten und halfen mit, ein gutes Netzwerk aufzubauen. Wir vermitteln auch Informationen, wie unsere Gesellschaft tickt, warum wir Steuern zahlen, wie Krankenkassen funktionieren, dass wir Rechte aber auch Pflichten haben.»

Das Zusammenwohnen braucht Offenheit, Verlässlichkeit, Zeit und Respekt von beiden Seiten. Wöchentliche Austauschsitzungen sowie ein gutes Verhältnis zum Asylsozialdienst erachten die zwei grossherzigen Menschen als wichtig für das Zusammenleben. «Natürlich gibt es auch Rückschläge», berichten sie. «Es ist schmerzhaft, wenn plötzlich die Lehrstelle abgebrochen wird oder wenn die Schwierigkeiten im Heimatland unsere Mitbewohnenden erdrücken.» Doch das Positive überwiegt, davon sind Catherine und Pierre überzeugt: «Die spannenden Diskussionen, die neuen Begegnungen mit Freund*innen unserer Mitbewohnenden, ihre Erfolge mit der deutschen Sprache, in der Schule, der Lehre oder am Arbeitsplatz. Auch der Austausch mit anderen Freiwilligen und die Dankbarkeit der Eltern unserer Mitbewohnenden freuen uns sehr. Fast täglich erleben wir, was möglich ist, wenn wir unsere Herzen und Wohnungen öffnen und trotz den Schwierigkeiten zuversichtlich bleiben.»

Eine kleine Wurzel in Bern

Ali zeigt ein blaues Heft. Es trägt den Titel «zuversichtlich». Darin notieren die drei Ideen, wichtige Kontakte, Termine und Gesprächsnotizen von Sitzungen oder Bewerbungen. «Ich kann Catherine und Pierre alles fragen», sagt der 30-jährige zufrieden. «Stimmt», meint Catherine, «unsere WG gibt Sicherheit und Schutz auch für persönliche Fragen über Freundschaft und Liebe.»

Mit Schweizer Freund*innen im Rücken geht der sprachliche, gesellschaftliche und berufliche Integrationsprozess schneller, es gibt weniger unnötige Schlaufen. Es braucht aber auch Erfolge. Einen solchen erlebte Ali im Bewerbungsgespräch für sein Praktikum in einem Architekturbüro. «Ich konnte jedes Wort verstehen, sie sprachen langsam und deutlich. Ich fühlte mich so beachtet.»

Tage zuvor beim Tee fragte Ali: «Wo kann ich Wurzeln schlagen? Wo darf ich Mensch sein?» Vielleicht ist diese Wohngemeinschaft hier in der Schweiz mitten in der Gesellschaft der Anfang einer Antwort.

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