«Ich fühle mich zu Hause»

Bahnhof Yverdon-les-Bains, abends, ein Mädchen wartet in Tränen aufgelöst auf den Bus. Es ist das Jahr 2015 und dieses Mädchen ist die 15-jährige Nakfa. Sie ist auf der Suche nach einer besseren Zukunft aus Eritrea geflüchtet. Heute ist Nakfa 23 Jahre alt, lebt in Prilly-Malley und arbeitet als Fachfrau Gesundheit in der Region Lausanne. Sie erzählt uns, wie sie als unbegleitete Minderjährige in der Schweiz aufgewachsen ist, sich hier integriert hat und was sie sich für die Zukunft wünscht.

Von Virginie Jaquet, Redaktorin SFH

«Anfangs habe ich die ganze Zeit geweint, es war sehr schwierig und beängstigend», beschreibt Nakfa ihre ersten Momente in der Schweiz und vor allem ihre Ankunft in Yverdon. «Ich wollte ins Bundesasylzentrum Vallorbe fahren, sprach aber nur ein bisschen Englisch, hatte kein Geld, der Busfahrer verstand mich nicht und ich verstand ihn nicht», erzählt sie weiter.

Unbeschwert aufwachsen dank guter Betreuung

Als sie im Bundeszentrum für Asylsuchende in Vallorbe ankommt, fühlt es sich für sie zunächst wie ein Gefängnis an. Zum Glück findet sich Nakfa schnell zurecht, unter anderem dank den Betreuerinnen und Betreuern. Ausserdem nimmt sie an Patenschaftsprojekten teil. Es habe einige Zeit gebraucht, bis sie sich in der Schweiz sicher fühlte und es sei nicht immer einfach gewesen, um Hilfe zu bitten. Doch sie betont, sie habe Glück gehabt und nette Menschen getroffen. «Ich erinnere mich, dass ich als unbegleitete minderjährige Asylsuchende gut betreut wurde». Für die Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH) ist klar: eine gute Betreuung von minderjährigen Asylsuchenden sollte nicht von Glück abhängen. Sie hat deshalb das Thema Kinder im Asylwesen zum Gegenstand ihrer diesjährigen Kampagne zum nationalen Flüchtlingstag gemacht.

Nakfa wiederum kritisiert, dass die Betreuung endet, wenn man volljährig wird. Das Schweizer Asylsystem sieht eine spezifische Betreuung für Kinder unter 18 Jahren vor. Mit dem Erreichen der Volljährigkeit gelten sie als Erwachsene und die Betreuung endet; und das, obwohl sich die Bedürfnisse der Betroffenen nicht von einem Tag auf den anderen ändern.

Schritt für Schritt ins Erwachsenenleben und in die Selbstständigkeit

Nakfa wird nach ihrer Ankunft in der Schweiz nicht nur gut betreut, sondern hat auch einen starken Willen und vor allem einen grossen Wunsch, der ihr auf ihrem Weg ins Erwachsenenleben hilft: Sie möchte ihre Familie wiedersehen. Sie hat Eritrea mit 14 Jahren verlassen und ihre Familie seither nicht mehr gesehen. «Ich wusste, dass ich meine Familie erst wiedersehen würde, wenn ich die Aufenthaltsbewilligung B erhalten habe.» Nakfas grosser Wunsch, möglichst rasch ein gesichertes Bleiberecht zu bekommen, motiviert sie, Französisch zu lernen und eine Ausbildung zu machen. Nach knapp einem Jahr beherrscht sie die Sprache Molières.

Für andere geflüchtete Kinder ist die Situation noch schwieriger. Für einige stellt das Erlernen einer neuen Sprache oder das Absolvieren einer Ausbildung eine zusätzliche Herausforderung in ihrer Flucht- und Integrationsgeschichte dar. Für die SFH ist klar: Sie dürfen nicht vergessen werden, und das Asylsystem muss Chancengleichheit für alle schutzsuchenden Menschen garantieren, ungeachtet ihrer Geschichte und ihres Alters.

Ihre Familie wiederzusehen, ist nicht Nakfas einziger Wunsch: Sie will auch unabhängig werden. Der Tag, an dem sie finanziell unabhängig wird und keine Übersetzung mehr braucht, um Französisch zu verstehen, ist ein Meilenstein in ihrem Integrationsprozess. Auch ihre Ausbildung zur Fachfrau Gesundheit ist ein wichtiger Schritt für sie. Sie schliesst das eidgenössische Berufsattest (EBA) mit Bravour ab und erhält 2020 den Verdienstpreis des «Centre Patronale». 2022 erreicht sie das eidgenössische Fähigkeitszeugnis (EFZ) als Fachfrau Gesundheit. Heute arbeitet sie noch immer im gleichen Altersheim, in welchem sie ihre Lehre absolviert hat. Bald wird sie sogar schon selbst Lernende ausbilden können.

Weiterwachsen

Nakfa ist heute 23 Jahre alt. Sie will sich weiterentwickeln und weiterwachsen, genauso wie die Pflanzen im Garten, den sie pflegt. Ihre Ausbildung ist ihr dabei wichtig: «Ich möchte Krankenpflegerin oder Radiologie-Fachfrau werden, aber jetzt muss ich erst einmal arbeiten.» Sie erklärt, dass ihr die Ausbildung immer geholfen habe, voranzukommen und über ihre Situation hinauszublicken.

Die Möglichkeit für unbegleitete minderjährige Asylsuchende, eine Ausbildung oder Lehre zu absolvieren, ist entscheidend für ihren Integrationsprozess. Deshalb unterstreicht die SFH im Rahmen der Kampagne zum Flüchtlingstag 2024, wie wichtig eine schnelle gesellschaftliche Teilhabe von schutzsuchenden Kindern ist. Diese Teilhabe bietet zahlreiche Vorteile, sowohl für die geflüchteten Kinder als auch für die Gesellschaft. Ihnen die Möglichkeit zu geben, eine Ausbildung zu machen, trägt dazu bei.

«Heute fühle ich mich hier zu Hause», meint Nakfa abschliessend, während sie ihren Kaffee am Küchentisch austrinkt. Sie hat es geschafft, alle Hindernisse auf ihrem Weg als minderjährige Asylsuchende zu überwinden und ihre Ängste zu besiegen. Alle Kinder, die in der Schweiz Schutz suchen, sollten diese Möglichkeit haben.

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