Alleingeflüchtete Kinder brauchen konstante Beziehungen

Alleingeflüchtete Kinder und Jugendliche leiden nicht selten unter einer Traumafolgestörung. Verlässliche Beziehungsangebote mit einer personellen Konstanz sind für ihre psychische Gesundheit essentiell, sagt Silvan Holzer, Psychotherapeut mit Schwerpunkt Migration und Traumafolgestörungen. Der Notfallpsychologe und Supervisor arbeitet seit über 15 Jahren institutionell und selbstständig mit jungen Menschen mit Migrationshintergrund. Unter anderem gibt er sein Fachwissen zudem in den Bildungskursen der Schweizerischen Flüchtlingshilfe (SFH) weiter. Die «Fluchtpunkt»-Redaktion hat mit Silvan Holzer im März 2024 gesprochen.

Von Barbara Graf Mousa, Redaktorin SFH

Was bedeutet es aus psychologischer Sicht, wenn Kinder und Jugendliche ihre Familie verlassen müssen?

Unabhängig davon, ob die Trennung eigenmotiviert oder wegen einer innerfamiliären Entscheidung erfolgt ist, ist sie immer ein schwerwiegender Einschnitt in die eigene Lebensgeschichte. Betroffene verlieren oftmals unerwartet und rasch Menschen, die ihnen bisher vertrauensvolle Sicherheit, Halt und Orientierung geboten haben. Dieser Verlust kann zu Überforderung, Ohnmacht und Orientierungslosigkeit führen und ist häufig mit starkem Stresserleben verbunden.

Wie ist es bei einer plötzlichen Trennung auf der Flucht?

Der Verlust ist oftmals traumatisch und hat existentiell bedrohlichen Charakter. Menschen müssen weiter funktionieren, um zu überleben und leiden gleichzeitig unter wechselnden intensiven Gefühlen von Trauer, Angst und Wut, meistens in Kombination mit starken Schuld- und Schamgefühlen. Es ist eine gedankliche Auseinandersetzung zwischen Ohnmacht und Hoffnung in Zusammenhang mit nicht eindeutigen Verlusten. Nicht zu wissen, ob geliebte Menschen noch leben oder tot sind, ist unbeschreiblich belastend.

Welche Auswirkungen kann die Fluchterfahrung auf alleingeflüchtete Kinder und Jugendliche haben?

Es sind Wechselwirkungen zwischen Schutz- und Risikofaktoren. Risikofaktoren sind beispielsweise Alter, Geschlecht und Bildungsstand des Individuums selbst, die Anzahl und Art der erlebten Ereignisse und der Mitmenschen, wirtschaftliche Faktoren und die Dauer der Flucht. Zu den Schutzfaktoren zählen die Bildung, der sozioökonomische Status, sichere Bindungen und eine hohe psychische Widerstandsfähigkeit. Stark vereinfacht gesagt: Wenn ein 9-jähriges Mädchen aus einem Land ohne Bildungszugang für Frauen allein über den Seeweg flüchtet, ist das Risiko schwerwiegender traumatischer Erlebnisse massiv höher, als wenn ein 15-jähriger Jugendlicher kurz vor Ende seiner obligatorischen Schulzeit per Visum mit dem Flugzeug in die Schweiz reist.

Bringen alleingeflüchtete Kinder und Jugendliche spezielle Fähigkeiten mit?

Alleingeflüchtete Minderjährige können aufgrund ihrer Fluchtgeschichte und der damit verbundenen Übernahme von Verantwortung soziale Kompetenzen entwickeln, die weit über dem altersentsprechenden Mittel liegen. Sie haben während der Flucht für alle Probleme selbst Lösungen finden müssen. Sie haben sich unter widrigsten Umständen «selbstwirksam» erleben können. Das verringert das Gefühl von Ohnmacht. Sie zeigen oft eine hohe soziale Anpassungsfähigkeit, ein verständlicherweise erhöhtes Kontrollbedürfnis und der Wunsch nach Mitsprache.

Weshalb ist es für Kinder und Jugendliche im Asylwesen existenziell, was in den ersten Tagen und Wochen bei ihrer Ankunft mit ihnen geschieht, und in welchem Umfeld sie wohnen?

Damit diese jungen Menschen ankommen können und aus dem teilweise über Monate bis Jahre andauernden «Fluchtmodus» wieder herausfinden, sind sichere Orte, verlässliche Bezugspersonen und Angebote für eine Tagesstruktur mit Bildungsangeboten empfehlenswert. Letzten Endes geht es auch um ein Bedürfnis nach Normalität sowie mittelfristig um die Entwicklung von Zukunftsaussichten, die im Jugendalter ein zentrales Entwicklungsthema darstellt. Fehlt es an Sicherheit, Konstanz und Perspektive und dauern Gefühle von Hilflosigkeit, Ausgeliefertsein und Ohnmacht nach der Ankunft weiter an, steigt die psychische Belastung. Die Wahrscheinlichkeit psychosomatischer Beschwerden und Krankheiten nimmt zu. Dann können bei Betroffenen Schlafstörungen, Probleme bei der Regulation von Gefühlen mit aggressivem oder regressivem Verhalten, Versuche von Selbstmedikation durch illegale Substanzen, Selbstverletzungen und Suizidalität auftreten.

Gibt es Herangehensweisen, welche sich beim Umgang mit Traumata oder anderen psychischen Herausforderungen als besonders wirksam erweisen?

Vereinfacht ausgedrückt sind es Kinder, die bei uns ankommen und nicht kleine Erwachsene, auch wenn sie oftmals so in Erscheinung treten. Sie benötigen eine kindsgerechte Umgebung, einen kindsgerechten Umgang und die Möglichkeit zu Kontrolle, Mitbestimmung und Mitsprache. Partizipation und verlässliche Strukturen in den Tagesabläufen sind wertvoll, um junge Menschen mit Traumafolgestörungen zu stabilisieren. Das bedeutet, sie ernst nehmen, das verlorene Vertrauen langsam wiederaufbauen und gemeinsam Perspektiven entwickeln. Das braucht Zeit.

Können Freizeitaktivitäten dabei helfen?

Sport- und Spielmöglichkeiten können sehr aktivierend, Stress verringernd, ablenkend und deshalb hilfreich sein. Sie bieten Momente der Unbeschwertheit und bei Gruppenaktivitäten ein Gefühl der Zugehörigkeit. Auf körperlicher Ebene können sie psychische Belastungen verringern. Auf geistiger Ebene erleben sich Betroffenen bei Sport und Spiel auf einer handlungsorientierten Ebene, entdecken ihre Selbstwirksamkeit und üben ihre sozialen Kompetenzen. Ich denke gerade an eine Gruppe junger Afghanen, die ein Kricket-Team gebildet hat, und so regelmässig sportlich aktiv war. Das ist wie eine «Verbindung» zur Heimat, stärkt ihr Selbstvertrauen und weckt bei anderen Jugendlichen Neugier.

Was raten Sie den Betreuenden in den kollektiven Asylunterkünften für ihre Arbeit mit unbegleiteten Kindern und Jugendlichen?

Ich habe grossen Respekt für ihre Arbeit in den Zentren und möchte mir nicht anmassen, Ratschläge zu erteilen. Hinsichtlich der psychosomatischen Gesundheit und der persönlichen Entwicklung können Minderjährige profitieren, wenn sie sich angemessen geschützt und in Sicherheit erleben. Das ist strukturell möglich durch kindsgerechte Unterbringungen, eine rasche Klärung des Asylantrags, aber ergänzend auch durch verlässliche, konstante, wertschätzende Beziehungsangebote mit Bezugspersonen, die als Rollenbilder dienen. So können die jungen Menschen Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen der Herkunfts- und der Aufnahmekultur erfahren und sich mit der anstrebenswerten bikulturellen Identitätsbildung auseinandersetzen.

Was «macht» eine Anhörung mit den betroffenen Kindern und Jugendlichen?

Für die betroffenen Kinder und Jugendlichen ist es unglaublich belastend und schambehaftet, in Anwesenheit mehrerer fremder Personen über intimste Details von traumatischen Erfahrungen zu berichten und dabei zu erleben, dass unter Umständen wiederholt kritisch nachgefragt wird. Das können Betroffene als Misstrauen interpretieren und als verletzend erleben. Unter dieser massiven Stresssituation kann auch das Erinnerungsvermögen leiden.

Kann man Minderjährige auf die Anhörung vorbreiten?

Die sachlichen Informationen der Rechtsvertretenden reichen aus der klinischen Erfahrung bei jungen Menschen mit traumatischen Erfahrungen nicht aus für eine Vorbereitung. Minderjährige profitieren von einer sehr konkreten, handlungs- und erlebnisorientierten und visualisierten Vorbereitung, weil sie sich weder die Situation noch die eigenen Reaktionen vorstellen können und wollen. Wie die Erfahrung zeigt, ist eine interprofessionelle Zusammenarbeit für alle Involvierten entlastend und unterstützend.

Welche Aspekte sind bei der Gesprächsführung in Anhörungen zu berücksichtigen?

Die sachlich geführten Gespräche sind für Kinder und Jugendliche irritierend und können von ihnen fälschlicherweise als Desinteresse wahrgenommen werden. Kinder und Jugendliche müssen darüber informiert werden, warum das Gespräch in dieser Art und Weise abläuft, warum Fragen aus einer rationalen Sicht gestellt werden und wenig Spielraum für Empathie zu bestehen scheint. Es könnte sich lohnen, deutlich mehr Zeit für vertrauensbildende Massnahmen zu investieren, damit sich die Jugendlichen und Kinder sicher und ernst genommen fühlen. Sie erleben den Asylprozess häufig als Demütigung, fühlen sich erneut ohnmächtig und hilflos und zeigen nachfolgend starke Gefühle von Trauer oder Wut.

Gibt es in Ihrer Arbeit mit unbegleiteten Kindern und Jugendlichen im Asylwesen Aspekte, Begegnungen, Erfahrungen, welche für Sie unerwartet und überraschend waren?

Ich staune immer wieder über die resilienten Anteile der jungen Menschen, die im Rahmen der Therapie zu Tage treten und wieder nutzbar werden. Zudem habe ich grossen Respekt, was diese jungen Menschen bewältigt haben und tagtäglich leisten in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Und wenn sie dann trotz schwerwiegender zwischenmenschlichen Gewalterfahrungen in individueller Weise nach Wegen und Möglichkeiten suchen, Vertrauen wiederzuerlangen und beginnen sich mit der eigenen bikulturellen Identität auseinanderzusetzen erscheint mir dies, wie wenn Rebstöcke nach dem Winterschlaf, äusserlich scheinbar leblos, plötzlich wieder neue Triebe bilden und zu neuem Leben erwachen. Diese Hoffnung und Zuversicht stärkt meine innere Haltung, dass sich etwas verändern lässt und es möglich ist, dass es Menschen nach schweren psychischen Verletzungen wieder besser gehen kann.