Wenn die Herzen im gleichen Takt schlagen

Lachen, der Ernsthaftigkeit des Lebens zum Trotz. Zuneigung schenken, entgegen der lieblosen Weltlage. Das tut das Pflege-Tandem Rawda Kaudi Mamour und Andrea Züger jeden Tag; sei es, wenn sie am Arbeitsplatz gemeinsam Kinder betreuen, sei es im Privaten.

Von Barbara Graf Mousa, Redaktorin SFH 

Rawda zieht den Stift aus ihrem kunstvoll geknoteten Haar und lacht: «Der Stift muss immer bei mir sein und das ist der beste Ort dafür. So muss ich ihn nie suchen, verliere oder verlege ihn nicht.» Sagts und notiert sich die Angaben der Nachtwache über das Wohlbefinden der Kinder in ein kleines Notizbuch. Es ist kurz vor 8 Uhr morgens im Schul- und Förderzentrum Wenkenstrasse in Riehen. Die vom Kanton Basel-Stadt betriebene Institution für Kinder und Jugendliche mit geistigen oder körperlichen Behinderungen ist seit vier Jahren der Arbeitsplatz von Rawda Kaudi Mamour, 51, Fachfrau Gesundheit. Ihre Kollegin Andrea Züger, 58, arbeitet als diplomierte Pflegefachfrau bereits zehn Jahre im gleichen Team, der Wohngruppe Merlin. Bis 2017 hiess das grosszügige Anwesen «Sonderschule zur Hoffnung» und beherbergte stets Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen. Vor etwas mehr als 20 Jahren liess der Kanton verschiedene Therapie- und Wohnhäuser in einer ansprechenden Architektur dazu bauen und den grossen Umschwung landschaftsgärtnerisch umgestalten. Heute wirkt alles sowohl in den Räumen wie draussen in den Gartenanlagen hell und grosszügig: «Unser Arbeitsplatz ist ein Paradies sowohl für die Kinder wie für die Angestellten», sind sich die Sudanesin und die Schweizerin einig.  

Feine Antennen 
Über 60 Kinder und junge Erwachsene leben im Schul- und Förderzentrum Wenkenstrasse oder nutzen tagsüber die betreuerischen, schulischen und therapeutischen Angebote. Oft werden Ausflüge, manchmal auch ganze Ferienwochen organisiert. Das Glück und die Freude darüber widerspiegeln die Fotografien und bunten Kinderzeichnungen an den Wänden. «Die Bedürfnisse der Kinder sind immer im Mittelpunkt unserer Arbeit. Jedes Zimmer ist individuell eingerichtet, die Betreuung ist je nach Behinderung eins zu eins», erklärt Teamleiterin Claudia Rönsch. «Eine liebevolle Atmosphäre, kompetente Aufmerksamkeit und Respekt gegenüber den Kindern, das sind unsere Leitsätze.» Diese haben die neun Mitarbeiterinnen der Wohngruppe Merlin verinnerlicht. Denn unabhängig voneinander loben Rawda und Andrea immer wieder das gesamte Team und erzählen, wie wichtig es Leiterin Claudia Rönsch und allen Mitarbeiterinnen sei, dass stets eine ruhige, wohlwollende Atmosphäre herrsche: «Unsere Kinder haben sehr feine Antennen. Sie spüren sofort, wenn etwas im Team nicht stimmig ist», berichtet Andrea, die schon einige Wechsel erlebt hat. «Wir ergänzen uns alle sehr gut: Es gibt unter uns gute Köchinnen, gute Künstlerinnen, gute medizinisch Geschulte. Wir sind aktuell ein vielseitig begabtes Team und es ist klar, dass Rawda mit ihrem sensiblen, feinfühligen Umgang hier mehr als dazugehört!».  

Verbindung ohne Kitsch 
Nach dem Morgenrapport teilen sich die Mitarbeiterinnen die Betreuung der einzelnen Kinder auf. Liebevoll nimmt Rawda die kleine Alma aus dem Bett auf, setzt sie behutsam in den Rollstuhl, lässt ihr Zeit, um die neue Situation zu erfassen, und gibt ihr dann das Frühstück ein. Andrea kontrolliert als Diplomierte die von Rawda gerichteten Medikamente, Rawda zückt ihren Stift und signiert das entsprechende Protokoll: «Das machen wir im Vier Augen-Prinzip immer bei jedem Medikament, eine sinnvolle Kontrolle für das Kind und für uns», erklärt sie und schaut zu Andrea: «Von dir habe ich schon so viel lernen dürfen! Wirklich, ich bin so dankbar, jemanden wie dich kennengelernt zu haben. Ich freue mich immer, wenn ich mit dir zusammenarbeiten darf!». Andrea lächelt bescheiden, zwinkert Rawda zu und sagt: «Neben der Arbeit verbindet uns vor allem die Lebensfreude, der Humor und das Lachen. Rawda ist für mich mehr als eine Arbeitskollegin. Sie gibt mir Energie, sie schenkt mir Freude. Ich bewundere sehr, wie sie trotz der vielen Sorgen mit einer Leichtigkeit durch das Leben geht.» Es sei schwierig, ohne Kitsch in Worte zu fassen, was genau sie so verbinden würde, sagt Andrea nachdenklich. Aber es komme ihr vor, wie wenn zwei Menschen auf dieser Erde zusammengefunden hätten, deren Herzen im gleichen Takt schlagen. «Ich habe Rawda erstmals bewusst wahrgenommen nach einem Teamtag», erzählt Andrea. «Wir gingen noch etwas trinken zusammen und ich sass neben Rawda. Sie erzählte mir mit viel Liebe aus ihrem früheren Leben im Sudan, von ihrer grossen Familie. Vielleicht war es die Art und Weise, wie sie es erzählte. Jedenfalls spürte ich damals, neben mir sitzt eine starke Persönlichkeit mit einer ganz eigenen Lebensweisheit.» 

Kein Bauchweh am Morgen 
Inzwischen sind die Kinder bereit für die Schule und Alma für einen Spaziergang zu den Tiergehegen. Die Pflegearbeit ist zeitintensiv und körperlich anstrengend. Oft sind die Hilfsgeräte und Rollstühle schwer. Manche Kinder leiden an Mehrfachbehinderungen und vermögen sich kaum selbst zu bewegen. Die Pausen für das Personal gestalten sich deshalb fliessend und parallel zur Arbeit. Am Anfang habe sie gedacht, das könne sie nicht, erinnert sich Rawda. Keine Pause, wie soll das gehen? «Wir helfen uns gegenseitig, alle hier sind bereit zum Einspringen, wenn du eine Pause brauchst», erklärt sie. «Warum? Weil wir alle möchten, dass die Kinder nicht darunter leiden. Das ist eine grosse Motivation und das geht super so.» Manchmal sei sehr viel los, kein Tag sei wie der andere. Es brauche viel Flexibilität von allen. Doch sie freue sich jeden Tag zur Arbeit zu kommen, erzählt Rawda: «Glaub mir, es gibt Arbeitsstellen, da hast du schon am Morgen beim Aufstehen Bauchweh. Hier aber freue ich mich jedes Mal zu kommen, egal, ob Früh- oder Spätdienst, egal, ob Feiertag oder Wochentag und auch egal, ob mich das Leben gerade stresst.» Die Chefin kommt mit Rawdas Handy und deutet auf die vielen Anrufe. Rawda Kaudi Mamour ist selbst Mutter von zwei Töchtern und zwei erwachsenen Söhnen, die alle hier geboren und aufgewachsen sind. Ihr Mann flüchtete 1990 aus dem Sudan in die Schweiz, wo er als Angehöriger der verfolgten Nuba-Ethnien politisches Asyl bekam. Vor einem Jahr erlitt er eine schwere Hirnverletzung und muss seither in einem Pflegeheim betreut werden. «Manchmal ist es nicht einfach, denn Rawda hat ein bewegtes Leben mit noch zwei schulpflichtigen Töchtern. Das erfordert Verständnis und Wohlwollen vom ganzen Team», erklärt Leiterin Claudia Rönsch. «Doch sie ist ein Glücksfall für uns alle, ist immer hilfsbereit, kümmert sich kompetent, zuverlässig und mit grosser Liebe um die Kinder und bringt so viel Gutes ins Team». 

Was wirklich zählt 
Tatsächlich spricht aus Rawdas Handy einmal mehr die harte Realität in ihrem kriegsgeplagten Heimatland. Ihr Onkel ist gerade verstorben an einem Schlangenbiss, der in der zerstörten sudanesischen Hauptstadt Khartum medizinisch nicht behandelt werden konnte. «Ach, der Sudan, mein Heimatland», seufzt sie und für einen kurzen Moment füllen sich ihre Augen mit Tränen. «Es wird nur immer schlimmer dort. Meine Familie lebt in Khartum und ich habe sie zum letzten Mal 2016 gesehen. 2023 hatten wir schon alles vorbereitet für ein Treffen, da brach der Krieg aus.» Oft werde sie gefragt, wie sie damit umgehen könne, hier zu sein, während ihre und auch die Familie ihres Mannes jeden Tag vom Krieg bedroht sind. «Ich weiss es manchmal auch nicht genau, ehrlich gesagt, aber meine Kinder, mein Freundeskreis und die Arbeit hier geben mir viel Kraft», erklärt Rawda. «Ich habe gelernt, einfach immer weiterzumachen und nicht lange nachzudenken. Ich kann immer lachen, auch wenn ich innerlich traurig bin. Sonst komme ich in eine Krise oder einen Herzinfarkt. Das will ich nicht, Lachen ist immer besser.»  

Andrea kondoliert ihr und fragt, ob sie eine Pause brauche, oder ob sie ihr etwas abnehmen könne. Rawda verneint, umarmt sie kurz und wendet sich wieder der kleinen Alma zu. Das kleine Mädchen blickt zufrieden zu Rawda und lässt sich die Jacke ausziehen. «Und wenn die Kinder dir ein Lächeln schenken», sagt Rawda, «dann ist das das Schönste und das Wichtigste im Moment. Dann zählt nur das». 

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