Für Pit und Brigitte Meyer war schnell klar, dass sie Geflüchtete aus der Ukraine bei sich zu Hause aufnehmen werden. Das Paar in den Fünfzigern, Eltern von zwei erwachsenen Kindern, konnte nicht einfach untätig bleiben. «Der Krieg in der Ukraine hat uns sehr aufgewühlt. Mein Sohn ist im Militär; er könnte auch ein junger Soldat sein, der eingezogen wird, und sein Land verteidigen muss. Dasselbe gilt für meinen Mann», erklärt Brigitte Meyer sichtlich bewegt. «Es hat mich etwa eine Woche lang beschäftigt, ich konnte nicht mehr schlafen.» Als Ehefrau und Mutter fühle sie mit all den ukrainischen Frauen mit, die ihren Lieben «Lebewohl» sagen müssen, weil sie gegen den Feind in den Kampf ziehen. Ohne sich mit ihrer Familie zu besprechen, hat Brigitte Meyer sich eines Abends auf der Website von Campax für die Aufnahme ukrainischer Geflüchteter gemeldet. «Mein Mann und meine Kinder haben mich natürlich sofort unterstützt, als ich ihnen die Neuigkeit mitteilte. Zwei Wochen nach der Anmeldung erhielt ich einen Anruf. Ich wurde gefragt, ob wir bereit wären, drei Personen aufzunehmen, und ich sagte Ja. Wir haben Platz im Haus, seit die Kinder ausgezogen sind.»
Einen Monat nach Kriegsbeginn, am 24. März, ziehen drei ukrainische Geflüchtete ohne vorgängiges Treffen in ihr Haus in Saint-Blaise, einer Gemeinde zwischen dem Jurafuss und dem Neuenburgersee, ein. Es sind zwei Schwestern, die 27-jährige Anastasia Hutsuliak und die 34-jährige Kateryna Kuimova, sowie ihre Mutter Yevhenia Kuimova. Alle drei führten zuvor in Kiew ein aktives Leben. Anastasia arbeitete für ein Unternehmen im Energiesektor und schrieb an ihrer Doktorarbeit in Wirtschaftswissenschaften, ihre Schwester und ihre Mutter unterrichteten an einem Gymnasium Naturwissenschaften.

Aus seinem Land zu flüchten ist immer schmerzhaft
Voller Trauer erzählt die jüngere der beiden Schwestern vom Krieg und von der Flucht aus ihrer Heimat: «Sie können sich nicht vorstellen, was dort unten passiert. Und trotzdem wollten wir die Ukraine nicht verlassen», erklärt sie. «Ich mochte mein Leben in Kiew und ich habe jetzt alles zurücklassen müssen: meinen Mann, meinen Vater, mein Haus, meine Arbeit. Die Männer haben sehr darauf gedrängt, dass wir drei schnellstmöglich ins Ausland flüchten», erzählt sie weiter. Ihr Mann und ihr Vater sind geblieben, um in der lokalen Territorialverteidigung zu kämpfen. «Sie machen sich Sorgen um uns, da wir in einem unbekannten Land sind. Und umgekehrt machen wir uns Sorgen um sie, die jetzt in der Armee dienen», ergänzt die Mutter mit Tränen in den Augen.

Die drei Frauen haben sich bewusst für die Schweiz entschieden. Einerseits haben sie Verwandte in Genf, die seit Jahren dort leben. Andererseits gibt ihnen die Neutralität der Schweiz Sicherheit, denn das Risiko, dass das Land in den Krieg eintritt, ist im Vergleich zu anderen europäischen Staaten geringer. Die Reise von der Ukraine in die Schweiz dauerte vier Tage: «Mein Vater brachte uns mit dem Auto bis zur rumänischen Grenze, die wir zu Fuss überquerten», erzählt Anastasia. «Die Grenzwächter haben uns sehr freundlich empfangen, wir konnten uns ausruhen und uns erholen.» Dann nahmen sie das Flugzeug nach Bergamo in Italien und reisten mit dem Flixbus weiter in die Schweiz. Am 20. März erreichten sie die Schweiz und wurde von einer Tante in Genf am Bahnhof abgeholt. Doch die Tante beherbergt bereits um die zehn Personen und kann deshalb keine längerfristige Unterkunft anbieten.
Am nächsten Morgen gingen die drei Frauen zum Bundesasylzentrum in Boudry, um dort ein Asylgesuch einzureichen und eine Unterkunft zu suchen. «Es hatte unglaublich viele Leute, und wir mussten lange warten», erzählt Anastasia. «Aber wir hatten Glück, denn wir bekamen noch am gleichen Abend zwei positive Antworten: den Schutzstatus S und die Zuteilung zu einer Gastfamilie», fügt sie hinzu und schaut dankbar zu Brigitte hinüber.
Das Zusammenleben läuft gut. Einzig die Sprachbarrieren hindern eine spontane Kommunikation, weil sich Gäste und Gastfamilie häufig nur mit Hilfe von Google Translate verständigen können. «Wir sind beeindruckt von der grosszügigen Hilfe unserer Gastfamilie. Wir haben alles, was wir brauchen. Wir schätzen uns sehr glücklich, dass wir hier, weit weg von den Bomben, in Sicherheit sind», erklärt Anastasia und fährt mit erstickender Stimme fort: «Die Schweiz ist ein wundervolles Land, aber es sind schmerzliche Umstände, die uns hergebracht haben. Wir machen uns andauernd Sorgen um unsere Lieben.»
Die junge Frau möchte vor allem ihren Mann wiedersehen. Sie muss ständig an den Krieg denken, auch ihrer Schwester und ihrer Mutter geht es so. Sie träumen alle drei davon, wieder nach Hause zurückzukehren, wenn der Krieg vorbei ist. Unterdessen hoffen sie, in der Schweiz Arbeit zu finden und sich freiwillig für neu angekommene ukrainische Geflüchtete engagieren zu können. Seit Beginn der russischen Invasion am 24. Februar haben sich mehrere 10’000 Ukrainerinnen und Ukrainer in der Schweiz registrieren lassen, über fünf Millionen sind aus ihrem Land geflüchtet.

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